Die Räuber

Die Räuber

 

 

(Kann Spurenelemente von Friedrich Schiller enthalten)

 

 

 

 

 

Zerkratzt dem räudgen Geschmeiß die Fratzen, ihr Kämpen für das Gute, Edle und Wahre“, schrie der kaum dreißig Zentimeter große Wicht, dessen Kopf, sowie Arme und Beine, an beinahe durchsichtigen Schnüren befestigt war, die jedoch anders als bei Marionetten zu erwarten gewesen wäre, in keiner Weise angespannt zu sein schienen.

Hinz, Kunz“, rief daraufhin eine andere Stimme, die von der ersten aufgrund ihrer hohen Lage kaum zu unterscheiden war. „Wo seid ihr? Wir haben gerade erst mit den Proben begonnen, und ihr habt wohl nichts Besseres zu tun, als schon wieder Frühstückspause zu machen!“

Ein Brummen war zu hören, daraufhin tauchten die Köpfe zweier, vollkommen identischer junger Männer, oberhalb des Bühnenaufbaus auf, der auf der Ladefläche eines umgebauten Pferdeomnibusses befestigt worden war. Über den Köpfen der beiden stummen Brüder war auf einem, über die halbe Länge des Fuhrwerks entlanglaufendem, hölzernen Brett in bunten Buchstaben zu lesen "Marionettentheater Karbunkelkraut"; die Schrift war zusätzlich verziert mit einem Blumenmuster, das an naive Bauernmalerei erinnerte. Dies war auch kein Wunder, hatte man das Schild schließlich aus einem verlassenen Haus geborgen, nachdem man ein dort zurückgelassenes Ehebett auseinandergenommen hatte.

Ihr müsst schon so tun, als würdet ihr die Marionetten mit euren Händen führen, Hinz und Kunz, das ist doch der Sinn der Sache. Wie oft soll ich euch das eigentlich noch erklären?“, fragte jetzt der Gnom namens Kringskranx, der ebenfalls nur etwas mehr als einen kontinentalen Fuß maß. Allerdings würde sich der kleine, possierliche Kerl mit der roten Mütze, unter welcher ein dicker, gelber, geflochtener Zopf zu sehen war, mit der Bezeichnung 'Gnom' nun in keiner Weise einverstanden erklärt haben. Es handelte sich nämlich bei diesem, wie auch bei den anderen fünf, um nichts anderes als Hurveniks.

Wenn nun der Leser von solchen Wesen noch niemals gehört haben will, so sollte er wissen, dass sich die Sache eventuell anders verhielt. Wer hätte nicht schon von den Heinzelmännchen gehört; fleißige kleine Kerlchen mit ungeheuer geschickten Händen, die die liegengebliebene Arbeit des Tages im Dunkel der Nacht still und leise erledigten? Geschöpfe, die den Menschen von Herzen zugetan waren und ihnen jeden Wunsch von den Augen ablasen, ohne jemals nach einem Lohn hierfür zu fragen. Doch vielleicht gibt es auch Leute, die sich als Kinder vollkommen andere Geschichten vor dem Zubettgehen von ihren Großvätern hatten anhören müssen? Geschichten von kleinen, widerlichen, koboldartigen Zwergen, die vor dem Hause desjenigen, den in der Nacht der Schnitter mit sich nehmen würde, aus voller Kehle entsetzliche Schreie entließen, um eben jene Schreckensgestalt mit der Sense erst herbeizuholen. Niemand hat jemals von solchen Dingen gehört? Nun das kann ich mir wirklich nicht vorstellen!

Allerdings sind beide dieser Gute-Nacht-Geschichten, die Opa, beziehungsweise Oma, gerne erzählten, wenn die lieben Enkelkinder wieder einmal nicht einschlafen wollten, vollkommen aus der Luft gegriffen. Mit keiner der erwähnten Märchengestalten haben Hurveniks im Grunde sonderlich viel gemein. Dennoch beziehen sich diese Art Legenden genau auf jene Geschöpfe. Obwohl kaum mehr ein Bewohner des Kontinents jemals eines dieser Wesen ansichtig geworden war, scheint in der menschlichen Psyche so etwas wie eine vererbte Erinnerung zu bestehen, so dass man sich durchaus noch an die Existenz jener Geschöpfe entsinnen kann.

Seit langer, langer Zeit aber hatten sich die Hurveniks von der Menschheit abgewandt. Obwohl sie, wie ihre mythische Inkarnation, die Heinzelmännchen, tatsächlich viel von den Menschen hielten, hatten die Kleinen irgendwann einsehen müssen, dass der Mensch zwar über einen äußerst innovativen Geist verfügt, ja dass einzelne Exemplare dieser Rasse geradezu vor Kreativität sprühten, aber dass auf eben diese Menschheit kein Verlass war. Irgendwann einmal hatte schließlich das Negative überwogen und die meisten der kleinen Leute hatten sich enttäuscht weit in den Osten des Kontinents an den Rand der Nebelberge zurückgezogen. Zu viele Kriege, Waffen, mit denen man auf einen Schlag dutzende von feindlichen Soldaten töten konnte, Missgunst, Neid und dieses permanente Streben nach Reichtum in Form von Gold und Geld hatten die Hurveniks dazu gebracht, ihre Meinung über die Menschheit zu revidieren, und die allermeisten von ihnen wollten im Grunde nichts mehr mit ihr zu tun haben.

Die so ermahnten Brüder Hinz und Kunz, die selbstverständlich von ihren früh dahingegangenen Eltern, völlig andere Namen verliehen bekommen hatten, nahmen nun die Strippen, an denen die Kleider des ersten Gnoms befestigt waren, in die dicken Hände und bemühten sich jetzt, den Eindruck entstehen zu lassen, als bewegte sich das Kerlchen unter ihnen auf der Bühne, nur durch ihre, der Geschwister, Geschicklichkeit. Sie konzentrierten sich derart auf diese Sache, dass ihre Zungen links und rechts ihrer beiden Lippenpaare herausschauten. Hinz und Kunz waren zwar nicht gerade die Hellsten, doch versuchten sie immer ihr Bestes, um es ihren winzigen Brötchengebern recht zu machen.

Das sieht doch schon ganz gut aus, he, he!“, rief nun eine tiefere Stimme aus, woraufhin hinter dem Wagen ein recht großer, dicker Mann hervortrat. Er trug eine Melone auf dem Kopf, einen sauber gestutzten Schnäuzer im Gesicht und wischte sich gerade den Rasierschaum vom Doppelkinn; in der anderen Hand hielt er immer noch das scharfe Messer, mit welchem er sich gerade noch über die Wangen geschabt hatte. Dann wischte er mit dem Handtuch, das über seiner Schulter hing, den Schaum ab. „Krautschuk bewegt sich äußerst anmutig in diesem Kleidchen!“

Ha, ha!“, rief daraufhin der Kleine von der Puppenbühne herunter. „Wieso muss ich immer die Frauenspersonen geben, kann mir das mal irgendjemand sagen? Warum nehmt ihr nicht Düsselkrink?“

Dann müsste jemand in die nächste Stadt vorausfahren und eine Änderungsschneiderei ausfindig machen!“, meinte daraufhin ruhig der Dicke, der als Impresario des Marionettentheaters fungierte. Jonathan Kammergarn war im Grunde das Mädchen für alles. Er machte die Kasse, die Termine mit den Städten und Gemeinden, holte Erlaubnisscheine ein, redete mit den Bürgermeistern oder den Verwaltern größerer Ländereien, ließ Werbeplakate drucken, und so weiter, und so fort. Irgendjemand musste sich mit den verantwortlichen Leuten beraten und die Auftrittsbedingungen vereinbaren, da die Hurveniks keinesfalls als das erkannt werden wollten, was sie waren, nämlich Geschöpfe, die in der Erinnerung der Menschen nur im Reich der Märchen angesiedelt waren. Im Grunde war die Idee, die kleinen Kerle als hölzerne Puppen erscheinen zu lassen, von Jonathan Kammergarn gekommen.

Er war vor Jahren auf Reisen von Ganoven ausgeplündert, zusammengeschlagen und halbtot im Straßengraben liegengelassen worden, wo ihn eine Gruppe Hurveniks gefunden und in ihr kleines Dorf gebracht hatte. Diese hatten es schließlich fertiggebracht, den großen Menschen wieder aufzupäppeln, und als ihnen das gelungen war, und Kammergarn vom Fieber befreit endlich die Existenz seiner Retter hatte anerkennen müssen, entdeckten einige der Hurveniks und der Genesene bald darauf eine gemeinsame Leidenschaft. Hierbei handelte es sich, wie der Leser wohl unschwer wird erraten können, um die Liebe zum Theater!

Die meisten des kleinen Volkes waren hiervon regelrecht besessen. Es war eine uralte Tradition der Hurveniks kleine Schwänke aufzuführen, doch als es einmal einen von ihnen in eine größere Stadt verschlagen hatte, die sich ein eigenes Ensemble leistete, war es um den Knirps geschehen gewesen. Wie nicht anders zu erwarten, war es ausgerechnet das melodramatische Werk von Romero und Julischka gewesen, das es fertiggebracht hatte, den Hurvenik in Tränen aufgelöst in einer Nische des Bühnenbildes zurückzulassen. Und als der dann zurück ins heimatliche Heimdahl gekommen war, hatte er tatsächlich eine schriftliche Kopie des Stückes bei sich, die aufgestellt beinahe genau so hoch war wie der Hurvenik selbst. Dieses erbeutete Werk der Hochkultur wirkte auf einige seiner Artgenossen nun wie eine Droge. Sie konnten nicht damit aufhören, die berühmte Balkonszene nachzustellen, den Kampf Romeros mit seinem Widersacher Trübald und schließlich den sterbenstraurigen Tod der beiden Liebenden, bis die Hurveniks schließlich auf die Idee kamen, diese Wanderbühne zu gründen, nachdem sie ihren späteren Impresario gefunden, und ihm das Leben gerettet hatten.

Jetzt zogen sie tatsächlich schon etliche Jahre durch die Lande und hatten schon einige Abenteuer erlebt. So manches Mal wäre ihre Scharade beinahe aufgeflogen, wenn ein neugieriger Knirps sich hinter die Bühne geschlichen und entdeckt hatte, dass die Marionetten keineswegs von den geschickten Händen der Puppenspieler über den Bretterboden bewegt wurden. Aber wer glaubte schon einem Kind? Besonders wenn es solch einen Unsinn zusammenlog, eine Geschichte von Wichteln oder gar Kobolden! Wer um Himmels Willen wollte so etwas schon glauben?

Auch wurden sie nicht immer von der jeweiligen Obrigkeit in besonderem Maße willkommen geheißen, besonders nachdem sie sich auf Stücke spezialisiert hatten, die an eben dieser Obrigkeit nicht auch nur ein einziges gutes Haar ließ. Vieles lag immer noch im Argen auf dem Kontinent, die meisten Menschen wurden von ihren adligen Herren ausgeplündert, ob es sich nun um einfache Landmänner oder Handwerksleute handelte. Ein jeder mit einem 'Von' oder einem 'Zu' im Namen fühlte sich einem solchen Menschen haushoch überlegen, und so unterdrückte man den Großteil der kontinentalen Bevölkerung immer noch Tag für Tag, obwohl es seit der Regierungszeit des Reichsverwesers Puntigam hiermit erheblich besser geworden, und sogar die Leibeigenschaft breiter bäuerlicher Bevölkerungsschichten abgeschafft worden war, hatten immer noch die zahlreichen Fürstenfamilien die Macht im Lande, da sie es waren, die über Güter und Ländereien verfügten.

Gegen dieses schreiende Unrecht spielten die Hurveniks gerne an und oftmals verhöhnten sie in den Dialogen der klassischen Stücke, die sie darboten, gerade diejenigen, die in den Ortschaften, durch die die Truppe gerade zog, das Sagen hatten. So konnte es vorkommen, dass man demjenigen Hurvenik, der einen Fürsten darstellte, ein besonders spitzes Kinn oder eine geradezu gespenstisch breite Nase anklebte, um einen Herrn auf die Schippe zu nehmen, dessen Gebaren in jenem Landstrich ganz besonders auf Missfallen stieß. Solch ein Vorgehen barg natürlich allerlei Risiken, und nicht nur einmal waren sie gezwungen gewesen, schon in der gleichen Nacht oder im frühen Nebel des Morgens, die jeweilige Ortschaft heimlich zu verlassen, bevor ihrem Impresario und den Helfern Hinz und Kunz noch die Kehlen durchgeschnitten werden konnten. Manchen der gedungenen Mörder war ihr Ansinnen jedoch nicht gut bekommen. Hurveniks verfügen über eine weitaus größere Kraft, als ihre zarten, kleinen Leiber vermuten ließen.

Gerade probierten die Kleinen ein neues Stück aus der Feder des auf dem gesamten Kontinent hochverehrten Dichters Anatol Stoppklopp. Ein Werk, das kaum einer sogenannten Aktualisierung bedurfte, wurde doch schon im Originaltext keinesfalls an Kritik gegenüber der Obrigkeit gespart. Der Autor hatte es 'Die Räuber' betitelt.

 

Wie wäre es denn jetzt noch einmal mit der Sterbeszene, wenn wir schon eine so prächtige Armgard haben?!“, rief Kammergarn aus und verschränkte die dicken Arme über der, von einem recht speckigen Unterhemd bedeckten, Brust.

Nun gesellte sich ein weiterer Wicht zu demjenigen, der das Kleidchen trug, auf die Puppenbühne. Er zog die Schnüre, an denen er eigentlich hätte zappeln sollen, hinter sich her, dann nahm er das hintere Stück, an dem die Enden um einen kurzen Stock herum mit einem lockeren Knoten zusammengebunden waren, und warf diesen hoch in die Luft, wo er jetzt von Hinz oder auch von Kunz geschickt aufgefangen wurde; man konnte die beiden einfach nicht auseinanderhalten. Jedenfalls hatte der Fänger nun bald die Strippen entwirrt und tat nun so, als führte er eine Marionette über die Bühne.

Und was ist mit dem Todgeweihten?“, rief der Impresario aus. „Bitte sämtliche Sterbende auf die Bühne, hopp hopp!“

Der Hurvenik, der nun die Bretter betrat, hatte an seinem Nachthemd keinerlei Schnüre befestigt und meinte nur lapidar: „Ich werde mich ja wohl kaum bewegen müssen, oder?“

Bin noch am überlegen, Düsselkrink. Übrigens steht dein Kleidchen hinten auf!“ Tatsächlich konnte man unter dem Nachtgewand die übliche Bekleidung der Hurveniks hervorschimmern sehen, blaue Hose, weißes Hemd und grüne Weste. „Und was ist mit der Perücke?“

Das juckt wie verrückt das Ding“, meinte der Kleine nur und stopfte sich den gelben, geflochtenen Zopf unters Hemd. Zur gleichen Zeit hatte einer der Puppenspieler ein winzig kleines Bettchen auf die Bühne geschoben, in welches sich besagter Düsselkrink nun unter Stöhnen hineinlegte.

Was ist los, schon wieder der Ischias?“

Ach was, ich stimme mich nur schon mal aufs Sterben ein, Kammergarn. Du kennst doch meine Methode!“, antwortete der Hurvenik etwas genervt. Düsselkrink hatte schon seit Jahren vor, über seine Herangehensweise ans Schauspielen, einmal eine Art Ratgeber für Anfänger in dieser Kunst zu schreiben. Um seine Stimme etwas gequält klingen zu lassen, wie es die Szene, die jetzt geprobt werden sollte, von ihm verlangte, hatte er sich tatsächlich eine stachelige Kastanie in die Hosentasche gesteckt.

Tritt her, mein Sohn. Du siehst, ich bin nicht mehr lang! Ich vergehe, wie der Dunst über dem Tal dem sonnigen Tage weichen muss!“, sprach er nun und trotz seiner hohen Stimmlage, konnte man ihm die Qual, die aus seinen Worten sprach, durchaus anhören.

Habt ihr nun genug über euren Sohn geflennt? Hattet ihr nicht mehrere? Hat denn ein Einzelner Euch nicht gereicht!“, antwortete jetzt derjenige Hurvenik, der eine Art Strumpfhose trug; darüber eine, wie aufgeblasen wirkende, grünstichige Jacke mit Schulterpolstern. Er wirkte hierin ungeheuer breit.

Ach!“, seufzte der Impresario, so dass es keiner mitbekam. Die Textsicherheit von Runkelpetz war heute mal wieder vollkommen vernachlässigbar.

Armgard geh, nimm die Heilige Schrift! Lies mir die Geschichte von Gnarz und Pollux noch einmal vor! Du weißt, wie sehr ich diese liebe!“, seufzte der kleine Kerl auf dem Bett, und wirklich hätte man meinen können, sein letztes Stündlein wäre angebrochen.

Gut, so soll es denn sein! 'Da nahmen sie Gnarzens Rock und schlachteten ein Bullenwiesel ...'", sprach nun der kleine Kerl im Kleid und blätterte in einem imaginären Buch. Die Worte hatte er, da er ja immerhin eine Frauensperson darstellen musste, in einer solch tonalen Höhe ausgesprochen, dass es für menschliche Ohren kaum mehr wahrzunehmen gewesen war.

 

Was haben wir denn da für eine Gesellschaft beieinander?!“, rief daraufhin eine andere Stimme aus, die eindeutig nicht zu einem der Kleinen gehören konnte. „Schausteller, Barden, Zirkusleute!? Na ja, auch bei solchem Gesocks wird wohl irgendwas zu holen sein. Halt du den Fettsack in Schach! Du passt auf die Schwachköppe auf dem Wagen auf! Sehen aus wie Idioten, die beiden!“

Hinter Kammergarn, der immer noch im Unterhemd vor der Bühne stand, waren vier finstere Gestalten aus dem Gesträuch getreten, allesamt vor Schmutz starrende Halunken, die schon lange Zeit kein Wasser mehr an ihre Kadaver gelassen hatten. Zwei der Kerle hatten Musketen in Händen, die jetzt auf den Impresario und auf Hinz und Kunz gerichtet waren. Der Anführer trat auf Kammergarn zu, in der Hand eine rostzerfressene Pistole.

Aber, aber, werter Herr, passen Sie nur mit dem Ding da auf, das sieht mir aus wie ein Fall für unseren Sicherheitsbeauftragten!“, erklärte der Impresario ernsthaft, zumindest war der spöttische Unterton für den tumben Gesellen nicht zu erkennen.

Was?! Komm mir mal nicht krumm, du fettes Schwein! Leer erst mal deine Taschen aus! Wollen mal sehen, was da zu finden ist?!“, blaffte der Kerl nun Kammergarn an, der sich aber nicht aus der Ruhe bringen ließ.

Aber mein Lieber, was vermeinen Sie nur bei uns armen, wandernden Künstlern zu finden? Sehen wir etwa aus, als dinierten wir des Abends in den vornehmsten Lokalen oder tragen wir etwa güldene Ringe um die Finger?“

Quatsch nicht, du Dickwanst! Fasst du nun selbst in deine Säckel oder soll ich das etwa tun, nachdem ich dir eine Kugel verpasst hab?“, schrie der Räuber nun und unterstrich seine Drohung damit, dass er dem Impresario den Lauf seiner Waffe ins Gesicht hieb. Kammergarn schwankte, hatte sich aber sofort wieder gefangen und richtete sich nur umso größer vor dem etwas kleineren Kerl auf. Mit der rechten Hand wischte er sich das Blut von der Wange, das aus einem tiefen Riss zu perlen begonnen hatte.

Gut, schon gut“, beeilte sich Kammergarn nun zu sagen, er griff in die Taschen seiner Hose, an welcher noch immer die Träger herabbaumelten, und kramte eine Weile darin herum, bis er endlich ein paar Münzen, ein Stück Schnur, einige Stahlstifte und ein Taschenmesserchen zum Vorschein brachte, das in seinen großen Händen lächerlich winzig wirkte.

Soll das etwa alles sein? Das Kleingeld kannst du behalten, um den Fährmann zu bezahlen!“, meinte der Dreckskerl nun verächtlich. In jenen Breiten des Kontinents glaubte man noch daran, dass einen nach dem Tod der Inhaber eines Fährbetriebs, ein gewisser Herr Sharonston, über den Fluss Flyx bringen würde, und diesen Schiffer sollte man besser nicht um seinen Lohn prellen.

Ach, der Kerl nimmt nur Golddukaten, das sollten Sie wohl wissen, mein Herr“, meinte Kammergarn, der sich dem Anschein nach wieder voll in der Gewalt hatte.

Na dann, sehen wir mal, was ihr in eurem Karren so alles versteckt habt!? Geh vor, Dicker! Und keine krummen Sachen! Ich leide an einem nervösen Zeigefinger!“

Nervöser Zeigefinger, hihihihi! Der war gut Ottwin, der war echt gut!“, lachte jetzt der Kerl, der während der ganzen Zeit die Muskete auf Kammergarn gerichtet hatte. „Hihihihi, nervöser Zei ...“

Halt die Klappe, Friedel, und nenn mich nicht bei meinem Namen!“

Aber ich heiß doch gar nicht Friedel, Ottwin! Hast wohl vergessen, dass ich Murkskopf heiße?!“

Hey, wollt ihr euch nicht vielleicht auch noch vorstellen?!“, rief der Anführer jetzt den anderen beiden zu. Der eine hielt das Gewehr auf Hinz und Kunz gerichtet, die kreideweiß immer noch auf dem Brett für die Puppenspieler standen, das ungefähr einen halben Meter über dem Boden der Kutsche angebracht war.

Gute Idee! Immerhin sind wir ja zivilisierte Menschen nicht wahr?“, meinte daraufhin der Impresario des Marionettentheaters Karbunkelkraut. „Mein Name ist übrigens Kammergarn, Jonathan Kammergarn!“ Er streckte nun seinem Peiniger die Hand entgegen, der vollkommen apathisch nur darauf starrte. Dann spuckte der Kerl vor den Stiefeln des Impresarios auf den Boden der Lichtung.

Zum Wagen, Fettsack! Aber ein bisschen plötzlich!“

Die Kutsche der reisenden Truppe war ein recht absonderliches Gefährt. Sie sah aus wie eine der kleineren Pferdebusse, bei welcher man die Kabine für die Passagiere in der Mitte abgeschnitten, und eine neue Rückwand eingesetzt hatte; bei genauerem Hinsehen wäre den Räubern aufgefallen, dass unten an besagter Rückwand ein Türchen wie von einer Puppenstube angebracht worden war. Die Leiter, mit der man nach oben auf die Plattform gelangen konnte, war an der Seite befestigt; obenauf befanden sich zahlreiche Koffer, die allesamt schon zur Abfahrt festgezurrt waren. Die vier Gäule, die das Gefährt üblicherweise durch die Landschaft zogen, grasten hundert Meter weiter, dort wo das Gras etwas grüner zu sein schien.

Na, rauf da!“, schnauzte der Räuberhauptmann Kammergarn jetzt an, der umständlich Anstalten machte, die Leiter zu erklimmen, bis schließlich der Kerl ungeduldig zu werden begann. „Murkskopf, hinauf mit dir! Bei dem Fettsack hier stehen wir uns hier ja noch tagelang die Beine in den Bauch!“

Obwohl der Angesprochene über einen unwesentlich schmaleren Körperumfang verfügte als der Impresario, stand er alsbald oben auf dem Dach des Gefährts und machte sich an den Seilen zu schaffen, nachdem er die Muskete unten an den Wagen gelehnt hatte.

Nimm die Flinte an dich!“, forderte der Anführer nun den Halunken auf, der bislang nur mit einer ebenso wurmstichigen Pistole ausgestattet war, wie er selbst eine in Händen hielt. Dann rief er zu seinem Freund Murkskopf hinauf: „Wie wär‘s denn, wenn du einfach ein Messer nehmen würdest?!“

Gute Idee, Ottwin“, konnte man den anderen sagen hören, und wirklich hatte er bald die Verschnürung durchtrennt und mühte sich jetzt damit ab, eine der beiden größeren Holzkisten aufzumachen; der Deckel schien wohl leicht zu klemmen.

Während Murkskopf nachsieht, was es hier für uns zu holen gibt, schlage ich vor, ihr beiden Torfköpfe könntet mal für uns die Puppen tanzen lassen!“ Hinz und Kunz starrten den Räuberhauptmann an, als hätten sie kein einziges Wort verstanden.

Gute Idee, machen wir einfach weiter, genau wie geplant!“, rief Kammergarn.

Obwohl die beiden stummen Brüder kaum dümmer aus der Wäsche hätten gucken können, so taten sie nun genau das. Doch auf ein Nicken des Impresarios hin, nahmen sie die beiden Stöcke mit den Schnüren wieder auf, an denen Krautschuk und Runkelpetz befestigt waren, und zogen die beiden Hurveniks, die sich die ganze Zeit über totgestellt hatten, auf die Beine, so als wären sie tatsächlich leblose, aus Lindenholz geschnitzte Püppchen.

Akt Fünf, Zweite Szene“, rief Kammergarn hinauf, woraufhin sich sogleich die Figur im Kleid zu regen begann.

Und getrauten Sie sich wohl, sein Bildnis zu erkennen?“, deklamierte Krautschuk fragend, worauf der andere Puppenspieler anscheinend keine Antwort wusste.

Das ist ja ein Ding!“, sagte der Räuber, der jetzt das zweite Gewehr in Händen hielt. „Der Kerl ist der beste Bauchredner, den ich jemals zu Gesicht bekommen hab! Und, hey, ich war schon auf ein paar Jahrmärkten gewesen! Keine Lippenbewegung zu sehen!“ Wenn die Bühne regulär aufgebaut gewesen wäre, hätte man die Gesichter von Hinz und Kunz selbstverständlich gar nicht sehen können.

Oh, ganz gewiss, sein Bildnis ist immer noch lebendig in mir!“, brachte es nun endlich Runkelpetz fertig, vorzutragen. Manchmal war er einfach ein wenig schwer von Begriff.

Die sind ja beide wahnsinnig gut, der eine, ebenso wie der andere!“, meinte der Räuber noch einmal, der sich gar nicht mehr einkriegen konnte. „Wirklich fantastisch!“

Ist ja gut, ist ja gut!“, meinte daraufhin lediglich der Räuberhauptmann Ottwin. „Woher weißt du übrigens, dass nicht nur einer von den beiden Idioten spricht? Na egal, weiter, weiter!“

Erraten, du hast es erraten. Mein Ahn bekam den Titel von Alphons dem Vielgepreisten für treueste Dienste verliehen!“, ließ sich nun wieder die Marionette im Kleid hören. Krautschuks Stimme erklomm hierbei wahrhaft ungeahnte Höhen. Es geht bei dieser Sache Menschen nicht anders als Hurveniks, wollen sich Menschenmänner als Menschenfrauen ausgeben, klingt dies auch meist vollkommen unglaubwürdig.

Der ist's auch nicht, der auch nicht!“, deklamierte nun wieder der behoste Gnom und tat dabei so, als schritte er eine Galerie von Gemälden ab.

Währenddessen hatte der ungeschickte Murkskopf es tatsächlich endlich fertiggebracht, die erste Kiste zu öffnen und holte daraus allerhand hölzernes Mobiliar hervor, freilich alles in winzigem Maßstab angefertigt, eine Sammlung die wohl für das riesige Puppenhaus, das eine Prinzessin besitzen mochte, angemessen gewesen wäre. Der dicke Räuber hatte schon vieles achtlos aufs Wagendach fallen lassen und beugte sich gerade über den Rand der Kiste, als er irgendwie den Halt verlor und nach hinten zu den Bäumen hin vom Wagendach plumpste.

Dahin, dahin, wie unsere besten Freunde gehen!“, sagte im selben Augenblick Krautschuk auf der Bühne. „Herr Graf, es reift keine Seligkeit unter dem Monde!“

Fred, schau mal nach, ob Murkskopf sich was getan hat!“, wies der Räuber Ottwin nun seinen Kumpanen an, der um die Kutsche herumlief, und gleich darauf nicht mehr zu sehen war.

Sehr wahr, sehr wahr“, stimmte nun der andere Hurvenik bei.

Jetzt wird es mir aber wirklich zu blöd“, meinte plötzlich eine andere Stimme, diese klang nun zwar beinahe ebenso hoch, doch in gar keiner Weise gekünstelt.

Hoho!“, rief Ottwin, „jetzt wirds aber interessant. Der kleine Kerl auf dem Bett hat sich jetzt bewegt. Ist ja irre! Aber ...?“

Jetzt kam tatsächlich noch eine Marionette auf die Bühne spaziert, und das Seltsamste daran war nun keineswegs, dass sie die Soutane eines Priesters trug, nein, es sah so aus, als würde diese Puppe an keinerlei Schnüren hängen.

So lasset mich dem Herrn Papa, die letzte Ölung lassen angedeihn“, rief nun der winzige Pfaffe aus.

Ottwin machte nun tatsächlich den Eindruck, als hätte er den Faden verloren. Mit offenem Mund starrte er auf die Puppenbühne, von welcher auf einmal die vier kleinen Gestalten heruntersprangen. Zwei davon zogen noch die Stricke hinter sich her, die Hinz und Kunz aus den Händen hatten fallen lassen. Ehe sich der Räuberhauptmann versah, hatte ihn die kleine Dame im Kleidchen auch schon an der Fußspitze gepackt, und sein Körper vollführte eine Bewegung, die dieser in seinem ganzen Leben nicht aus eigener Kraft heraus hätte vollbringen können. Er schlug einen anderthalbfachen Salto und landete hart auf dem Rückgrat. Ottwin glaubte, sein Kreuz müsse in tausend Stücke zerbrochen sein, noch dazu war es ihm in keiner Weise mehr möglich, zu atmen, nur langsam konnte er schließlich wieder begrenzt unter Schmerzen Sauerstoff aufnehmen, da kollidierte irgendetwas recht Hartes mit seiner Schläfe.

Vorhang! Vorhang!“, glaubte er, noch verstanden zu haben.

 

Was machen wir denn nun mit den Blödeln?“, hörte der Räuberhauptmann jemanden sagen. Zur gleichen Zeit wurde ihm bewusst, dass diese Worte nur der Fettsack mit der Melone gesprochen haben konnte. Noch bevor er zur Gänze die Augen geöffnet hatte, stellte er fest, dass er sich nicht bewegen konnte. Er blickte sich um und sah zu seiner Rechten Murkskopf, der neben ihm an den Stamm einer uralten Eiche gefesselt war. Die anderen waren weiter hinten an einem anderen Baum festgezurrt worden.

Tja, das weiß ich auch nicht, Impresario! Lassen wir sie doch einfach ein Weilchen hier abhängen!“, antwortete eine Stimme, die nur von einem dieser Monsterwichtel kommen konnte, wie Ottwin jetzt klar zu werden begann.

Vielleicht hast du recht, es wird sie bestimmt bald jemand aus ihrer misslichen Lage befreien, das hoffe ich wenigstens. Die Waffen nehmen wir jedenfalls mit, viel zu gefährlich dieser alte Plunder!“

Daraufhin hörte der Räuberhauptmann das Knallen einer Peitsche und der Pferdebus rumpelte an ihm vorbei. Obenauf, wo das Gepäck wieder ordentlich verstaut worden war, standen die sechs Winzlinge und winkten ihm zu, die strahlenden Blicke aus ihren saphirgrünen Augen würde Ottwin niemals mehr vergessen.

Adieu, adieu!“, riefen die Hurveniks wie aus einem Mund und schwenkten zum Abschied ihre Schnupftücher.