Königin Wurstsalat

 

 

 

  Königin Wurstsalat

 

 

Ein Märchen, nacherzählt von den Brüdern Schlimm

 

 

 

Die Königin Wurstsalat hatte an diesem wunderschönen Frühlingstag wieder einmal furchtbar schlechte Laune. Sehr wahrscheinlich lag es gerade daran, dass es eben solch ein schöner Tag war. Die Sonne war schon am frühen Morgen herausgekommen und die Menschen taten es ihr im ganzen Lande gleich. Lange, lange Zeit hatte der Winter gewütet, beinahe länger noch als in den vergangenen Jahren und jedermann sehnte den Frühling herbei, um die letzten Reste Eis hinwegschmelzen und endlich die Bäume wieder ausschlagen zu lassen. Noch dazu litt sie wieder einmal wie so oft an entsetzlichen Kopfschmerzen, die durch das Kinderschrei von nebenan nicht gerade besser wurden. Ganz im Gegenteil durchfuhr die Königin jedesmal ein Stich in ihrem borstigen Schädel, wenn wieder einmal ein langgezogener spitzer Schrei aus dem Kindergarten ertönte, der rechts ihres hoheitlichen Balkons lag. Sie rückte sich die Krone noch einmal zurecht, die sie sogar des nachts im Bett zu tragen pflegte. Die Königin war der Ansicht, dass auch im Schlaf es unbedingt vonnöten war, selbst den Gestalten, denen  sie nur in ihren Träumen begegnete, als dasjenige zu erscheinen, das sie für ihre wertvollste Eigenschaft hielt. Nämlich die Königin über das ganze große Land zu sein, das jetzt in schönstem Sonnenschein friedlich zu ihren Füßen lag.

Es war viel zu friedlich, befand die Königin Wurstsalat, es wurde Zeit endlich wieder einmal die Armee hinauszusenden, so konnte es wirklich nicht weitergehen. Insbesondere Herzog Eustace ging ihr immer noch gehörig auf den Wecker, mit seinen ständigen Klagen über den Verlust des Rübenackers zehn Meilen von seiner Burg entfernt. Die Truppen der Königin hatten sich wacker geschlagen und den Soldaten des Herzogs eine empfindliche Schlappe zugefügt, um schließlich die fünf Tagewerk Ackerboden ihrem Königreich zuzuschlagen. Dies war im Frieden von Drostewitz ausgehandelt worden, ein Vertrag, benannt nach der winzigen Gemeinde von elf Einwohnern, die genau am Rande besagter Landfläche gelegen war. Im Grunde hatte dieser Krieg nur begonnen, weil sich die Königin Wurstsalat an einem ebensolchen Morgen wie heute belästigt gefühlt hatte vom Gestank der Runkelrüben, welche fünf Meilen westlich ihres Schlosses unverschämterweise gerade mit dem Blühen beschäftigt gewesen waren.

"Ekelhaft, das ist ekelhaft", hatte die Königin damals ausgerufen und wäre beinahe ohnmächtig geworden ob dieser fürchterlichen olfaktorischen Zumutung.

Nun ist dies Begebnis freilich heute längst Geschichte und Herzog Eustace hatte sich mit dem Verlust des Gebiets abfinden müssen. Auf dem Gelände nun etwas anzubauen, war den umliegenden Bauern von Drostewitz und des benachbarten Gunzenhofen im Übrigen strengstens verboten worden. Sogar wenn sich irgendeine Pflanze dort selbst aussäte, so musste dies Unkraut auf der Stelle vernichtet werden, sofern das Zeug in irgendeiner Weise zum Blühen neigte. Die Königin war eben nun einmal sehr sehr empfindlich in dieser Hinsicht.

Doch am heutigen Tage konnte sie keineswegs einen Geruch ausmachen, den sie für dieses unerträgliche Kopfweh verantwortlich machen konnte. Aber das Geschrei der Kleinen dort drunten schien ihrer Gesundheit in keiner Weise mehr zuzumuten zu sein. So konnte das auf keinen Fall weitergehen, beschloss die Königin Wurstsalat, schickte ihre Kammerzofe Veronika hinunter in den Verwaltungstrakt und ließ ihren Leibarzt  zu sich kommen.

Im Grunde war die Königin Wurstsalat jedoch selbst verantwortlich dafür, dass der Kindergarten direkt neben dem Westturm des Schlosses angesiedelt worden war. Sie beabsichtigte hiermit sich ihrem Volk als ganz besonders kinderliebe Person darzustellen, und zu Anfang hatte das ja auch ganz hervorragend funktioniert. An diesem Tag aber hätte sie gar nicht mehr zu sagen gewusst, wie sie die ganzen Sitzungen über einen solch langen Zeitraum hatte durchhalten können. Diese Kinder waren auch damals nicht gerade ruhig und gesittet gewesen; insbesondere das ewige Stillsitzen war den lieben Kleinen doch sehr schwergefallen. Immerhin dauerte es ja doch einige Tage bis so ein Ölgemälde von Meister Fungus fertiggestellt war. Aber was tat man nicht alles, um sich bei seinem Volk beliebt zu machen? Auf keinen Fall wollte die Königin in der Öffentlichkeit als eine eiskalt berechnende Herrscherin dargestellt werden. Ihre größte Befürchtung bestand darin, nicht einschätzen zu können, was die Geschichtsschreiber dereinst über die Periode ihrer Regierungszeit wohl verfassen würden. Und bis sie erst den richtigen Maler gefunden hatte, der der Aufgabe gewachsen war, die Königin so auf die Leinwand zu zaubern, dass es tatsächlich dem Bilde entsprach, dass sie selbst von sich hatte. Ein Bild im Übrigen, das mit der Wirklichkeit so ganz und garnichts zu tun hatte.

'Wo bleibt nur der Doktor', fragte sich gerade die Königin Wurstsalat, die sich jeden einzelnen Morgen im Jahr zuallererst von ihrem Leibarzt aufsuchen ließ. Dies war eine liebe Gewohnheit geworden, und oft wusste Doktor Wackernagel auch ihre Wehwehchen mit einigen Pillen, Tröpfchen oder einem sogenannten Schönheitstränklein schnell zu vertreiben. Da wurde auch schon die Pforte zu ihrem Nachtgemach von der Wache aufgerissen.

"Der Leibarzt Eurer Majestät, Majestät!", plärrte der alte Klemperer in seiner rotkarierten Livree in den riesigen Raum hinein, so dass es einige Male von den beinahe kahlen Wänden widerhallte. Der Haushofmeister war ein wenig taub, doch hatte sich dies als Vorteil herausgestellt, wenn der Mann auch bei geheimen Unterredungen zugegen sein musste. Daher hatte die Königin den alten Deppen immer noch nicht aufs Altenteil geschickt. Und herein stürzte der Doktor Wackernagel wieder einmal völlig aus der Puste wie beinahe jedes Mal, wenn er die fünf Stockwerke hinauf ins Schlafgemach der Königin Wurstsalat zu kommen hatte. 

Mit der Gesundheit des gelehrten Medikus stand es anscheinend selbst nicht gerade zum Allerbesten, und wenn man seine Künste danach beurteilen hätte wollen, wie es nun um ihn, den Doktor, gesundheitlich stand, so wäre kein vernünftiger Mensch jemals auf die Idee gekommen, gerade dieses schwindsüchtige Männchen zu bemühen.

"Nun wie befindet sich Dero Gnaden denn heute?", brachte der Medikus nun mühsam unter Seufzern endlich heraus. Unter dem Hemd konnte die Königin beinahe das unregelmäßig auf und abhüpfende Herz des Winzlings erahnen. "Ich hoffe, Ihr stellt mir die schöne Hoffnung in Aussicht, dass  Dero Gnaden wohlauf sind und die gestrige leichte Erhöhung der Temperatur verflogen sein möchte?" Es gab wohl am gesamten Hofe der Königin Wurstsalat keine einzige Person, die sich so verschwiemelt ausdrückte wie der Doktor Wackernagel, was vielleicht auch an dessen Alter liegen mochte, schätzte die Königin den Mann doch auf mindestens neunzig Jahre.

"Es geht mir hundserbärmlich, Wackernagel! Wiewohl hundserbärmlich wohl eher noch untertrieben zu nennen sein dürfte!", meinte die Königin daraufhin und straffte hierbei ihre Haltung wie um ihre eigenen Worte Lüge zu strafen. Man durfte, auch wenn es einem noch so danach war, niemals ganz und gar eine Schwäche vor einem seiner Untertanen zeigen. Dieser Ratschlag des alten Königs, ihres Herrn Papa war der Königin Wurstsalat in Fleisch und Blut übergegangen.

"Nun, wo kneift es denn heute, Majestät?"

"Von einem Kneifen kann keine Rede sein, geschweige denn von jedweder Art von Zwicken oder Taumel, Wackernagel! Es ist wieder einmal der Kopf!"

"Ach der Kopf, das königliche Haupt. Ich verstehe Majestät! Kein Schwindel also, nur Schmerz?", fragte Wackernagel, bemüht einen treuherzigen Blick aufzusetzen, was ihn wie eine Mischung aus einem Dackel und einer Schildkröte wirken ließ.

"Was heißt denn hier 'Nur'? Ich verbitte mir solch eine Wortwahl, Doktor! Glaubt Ihr vielleicht ich ließe euch tatsächlich Tag für Tag rufen, wenn nicht ernsthafte Malitessen mein Gemüt verdunkelten?" Die Königin war sehr stolz darauf, mit solcherart Wörtern ihre Rede zu spicken. Sie glaubte, auf diese Weise auch auf einen immerhin gebildeten Mann wie den Medikus Eindruck zu machen.

"Verzeiht, Majestät", rief nun der Alte im Greisendiskant aus. Eine Tonlage, die nun wieder wie ein böser Stich durch den Schädel der Königin fuhr, so dass sie ihre fleischige Stirn in erhebliche Falten warf, was nun wiederum das Krönchen auf ihrem Kopf ganz leicht ins Wanken brachte. "Es handelt sich wohl um das alte Leiden, nehme ich an?" Eine Frage, welche nun die Königin in einige Verwirrung stürzte. Sie hatte nicht die geringste Ahnung, was dieser greise Idiot jetzt mit einem alten Leiden wohl meinte? Tatsächlich waren ihr alle ihre Leiden doch schon mit in die Wiege gelegt worden, wie ihr von allerlei Ärzten versichert worden war. Sämtliche Kinderkrankheiten hatte die zur damaligen Zeit noch recht schwachbrüstige Prinzessin erleiden müssen, die nur vorstellbar gewesen waren zur damaligen Zeit. Wäre sie jedoch heute in dem zarten Alter von einstmals, dann wären wohl noch etliche Krankheiten dazugekommen. Die Königin hörte immer wieder, wieviele ihrer Hofdamen doch darüber klagten, dass die diversen Erkrankungen ihrer kleinen Lieblinge jedes Jahr mehr und mehr zu werden schienen. Während die Königin selbst doch wenigstens lediglich vom Wochentölpel, Ziegenpeter, den Röteln und den Schafblattern heimgesucht worden war, allesamt Leiden welche tiefe Narben im Antlitz der Königin hinterlassen hatten, so existierten heute anscheinend noch weitaus mehr heimtückische Seuchen, die den adligen Nachwuchs von Zeit zu Zeit anfielen. Ob es sich bei den Bauernbuben und Mädels ebenso verhielt, hätte die Königin Wurstsalat nicht zu sagen gewusst. Heute sprachen die Herren Doktoren zusätzlich vom Schartigen Lumpikus, einem schuppigen Flechtenbewuchs, verbunden mit beidseitigem Ausfall des Hörsinnes, dann die Marilleninfektion, die sich auf die Tränendrüsen der lieben Kleinen auswirkte, was ihre Augen zu erstaunlich riesigen Bällen anschwellen ließ: und dann noch die Appendizitis, bei deren Auftreten die Doctores nicht darum herumkamen, wie sie behaupteten, das Kind tatsächlich aufzuschneiden, um aus seinen Eingeweiden ein winziges Stückchen vom Gedärm herauszuschnippeln, eine Methode, die in beinahe der Hälfte der Fälle zum Tode der kleinen Patienten führte. All dies hatte es in früheren Zeiten nicht gegeben, dachte zumindest die Königin, die das Ganze für groteske Übertreibungen der Medizin hielt, eine Wissenschaft, die sich in dieser Zeit immer selbst wichtiger und wichtiger machte, so dass schon sogenannte Chirurgen der Gottlosigkeit bezichtigt worden waren. Manch einer hatte gar den Tod auf dem Scheiterhaufen gefunden, eine nette Tradition mit der man allerdings vor wenigen Jahren beinahe zur Gänze gebrochen hatte. Sehr zum Missvergnügen der Königin übrigens, die schon als junges Mädchen recht gern einem solchen Schauspiel beigewohnt hatte. Es war einer der angenehmsten Vorteile, die man vor dem gemeinen Volk hatte. Man hatte von der eigens aufgestellten Einrüstung herab, die allerbeste Aussicht auf die zusammenschnurrenden brennenden Leiber gehabt. Und das lustige Geräusch, das hierbei entstand, war ihr damals wie die allerschönste Musik erschienen.

"Altes Leiden, es handelt sich keinesfalls um ein altes Leiden, Doktor!", protestierte nun Königin Wurstsalat energisch. "Ich denke, es muss sich durchaus um etwas Ernsteres handeln!"

"Nun, vielleicht handelt es sich tatsächlich um einen ganz neuen Virrus", schlug nun der greise Wackernagel begütigend vor!"

"Was soll das sein, ein Virrus?", fragte die Königin gleich zurück. Das Wort klang in ihren Ohren seltsam verlockend, sie hätte in keiner Weise sagen können, warum eigentlich?

"Es befindet sich zur Zeit ein junger Kollege in der Stadt, dessen Forschung auf diesem Gebiet meiner Meinung nach recht interessant sein könnte!"

"Was redet er in einem fort in Rätseln, Wackernagel? Was nun versteht Ihr nun unter dieser Begrifflichkeit?", fragte Königin Wurstsalat ungeduldig. Wenn sie etwas nicht ausstehen konnte, dann war es, wenn man ständig um den heißen Brei herumredete.

"Nun, es handelt sich bei einem Virrus um etwas winzig kleines, so klein, dass es mit dem bloßen Auge in keiner Weise zu erkennen ist. Man benötigt hierzu ein wirklich starkes Mikroskop ..."

"Was soll nun das wieder sein? Aber sprich weiter, Doktor!"

"Nun der junge Magister Karbinzel scheint diese winzigen Teilchen für so einiges verantwortlich zu machen, was gerade im Herbst und Winter in der gesamten Bevölkerung so um sich greift, Majestät. Ihr wisst doch, was ich meine, dieses unselige Geschniefe und Gehuste allerorten, dass ja auch schon zu hohem Fieber führen, und gerade bei Kindern oder alten Leuten rasch gar zum Tode führen kann!", erklärte Wackernagel, bemüht nicht Fachausdrücke zu benutzen, mit welchen, wie er sehr wohl wusste, Ihre Majestät nichts anzufangen würde wissen.

"Dieses sogenannte Virrus überträgt sich quasi von Mensch zu Mensch, man sollte daher möglichst die Erkrankten abseits der anderen halten, ansonsten wäre bald niemand mehr fähig, die Felder zu bestellen oder sein Handwerk auszuüben. Eine schreckliche Vorstellung, alles würde brachliegen und möglicherweise könnte eine Hungersnot das gesamte Land erfassen ..."

"Aber das ist ja wirklich fürchterlich, Wackernagel!", meinte Königin Wurstsalat ernsthaft erschrocken über dieserart düstere Aussichten.

"Dann macht Euch auf, und dieses äh ..., wie nanntet Ihr es noch, Virrus dingfest, Doktor! Immerhin ist Eure Zunft verantwortlich für das Wohl der Königin, wie auch der gemeinen Bevölkerung!"

In diesem Moment verspürte die Königin auch schon ein Kratzen im Hals, das sie mit einem Hüsteln zu unterdrücken suchte. Gleichzeitig hatte sie das Gefühl, ihre nicht gerade schlanke Nase sei im Begriff noch einmal um das Doppelte anzuschwellen.

"Ich würde mich sehr gerne einmal mit diesem jungen Mann unterhalten! Wie sagtet Ihr noch war der Name, Karfunzel?"

"Karbinzel, Majestät! Karbinzel!"

 

 

Ein äußerst seltsames Märchen, das ich da in einer alten Schatulle gefunden habe. Wenn es mir gelingt, auch die übrigen Blätter, die sich in einem geradezu miserablen Zustand befinden, noch zu entziffern, werde ich diese freilich unverzüglich der breiten Öffentlichkeit präsentieren.