Der Königin Wurstsalat zweiter Teil

 

Endlich ist es mir gelungen noch ein paar wenige Seiten des Märchens zu entziffern. Ich muss schon sagen, dieser Jacob Schlimm hatte eine ganz schöne Saukralle

 

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Nun ist es an der Zeit für den Schreiber dieser Zeilen einzugestehen, dass Wurstsalat keineswegs der tatsächliche Name der Königin war. Die allermeisten der geneigten Leserschaft haben dies wohl längst erahnen können, doch gedachte ich, mich ganz nach der Sprache des Volkes zu richten, und dort, in der breiten Bevölkerung, vom braven Handwerksmann bis zu den hohen Mitgliedern der Kaufmannsgilde wurde die Königin eben genau so genannt. In Wahrheit lautete der Name der erlauchtesten Hoheit Leopoldina, Pastillenzia, Rigorosia zu Hohenstolpern, sie stammte also aus derjenigen Familie, aus welcher seit Jahr und Tag auch die höchste Macht im Lande bestimmt wurde. Ja, der Kaiser war gar ihr nicht einmal ganz so ferner Vetter.

Eine Begebenheit in der frühesten Kindheit der Königin war daran schuld, dass dieser Schandname ihr auch zu dieser Zeit immer noch anhaftete wie Pech, obwohl sie selbst sich dessen in keiner Weise gewahr war. Selbstverständlich sprach man nur hinter ihrem Rücken diesen Namen aus und niemals war dieser Umstand bis zur Königin vorgedrungen. Allerdings hörte sie auch auf dem rechten Ohr nicht mehr ganz so gut, was vielleicht zu dieser Unkenntnis beigetragen haben mochte. 

Ihr eigener Herr Papa war schuld daran, dass man der Königin nun diesen seltsamen Namen verliehen hatte. Als nämlich die ersten Worte aus den Lippen der kleinen Prinzessin Leopoldina im zarten Alter von etwa fünf Jahren unversehens hervorschwappten, sie war in dieser Beziehung all ihren Altersgenossen etwas hinterher, da vermeinte der König nun nicht etwa das Wort Papa zu erkennen; auch als Mama war das Genuschel der Kleinen nicht zu deuten gewesen. Nein, der dicke König glaubte ganz genau das Wort Wurstsalat verstanden zu haben und konnte nicht anders als dies laut herauszuprusten.

"Wurstsalat, sie hat Wurstsalat gesagt!", brüllte der riesige dicke Mensch mit dem enormen Bauchumfang und hielt sich dabei den Wanst, der nicht aufhören wollte auf und abzuhüpfen, so dass er schon ein Ziehen in der Gegend verspürte, in welcher die Ärzte auch beim allerhöchsten Adel das Herz vermuteten. "Wurstsalat, Luise, ist das nicht drollig!", rief er gleich darauf seiner Gemahlin zu, die ihn daraufhin mit einem tadelnden Blick bedachte, den der grobe Klotz allerdings nicht zu bemerken schien.

Dummerweise waren bei dieser Angelegenheit nun etliche Personen aus der Dienstbotenschaft anwesend gewesen, die den Vorfall unten in der Schlossküche am folgenden Abend selbstverständlich in aller Ausführlichkeit den anderen Bediensteten mitteilten. Und freilich wurde auf diese Weise das erste Wort, welches die kleine, pummelige Prinzessin des Landes gesprochen hatte, nun hinaus in die Welt getragen. Bei der Klatschhaftigkeit der niederen Bevölkerungskreise war es praktisch unvermeidlich, dass die Kunde von der Prinzessin Wurstsalat durchs gesamte Königreich getragen wurde und sogar schließlich dessen Grenzen auch noch überwand. Selbst der Kaiser bezeichnete insgeheim seine ungeliebte Base als die Königin Wurstsalat und das nicht nur im Geheimen für sich selbst, keineswegs. Wenn wieder einmal Leopoldina einen Krieg mit einem ihrer Nachbarn wegen irgendeiner Geringfügigkeit vom Zaun brach, da stöhnte der Kaiser meist auf und beriet sich mit seinen Ministern, wie man wohl seine Verwandte, die Königin Wurstsalat ein klein wenig in ihrer Kriegslüsternheit bändigen könne.

Bleiben wir also bei dieser Titulierung der Person der Königin, wenn schon alle Welt sie so bezeichnete, wer bin ich, der Erzähler dieser Geschichte aus längst vergangenen Tagen, mich hiervon auszunehmen?

 

Die Königin Wurstsalat blickte vom Balkon ihres Schlafgemachs hinunter über die breite Schlossmauer aus Granitstein in den Innenhof des Kindergartens und rieb sich die Hände.

"Das ist ja wunderbar, ganz wunderbar, Doktor Karbinzel. Diese himmlische Ruhe, dieser Frieden! Wie haben sie dies nur zuwegegebracht?", seufzte die Königin beglückt.

"Eine reine Vorsichtsmaßnahme, Euer Hoheit. Ein Tüchlein um den Mund, in welchen man zuvor einen kleinen Ball gesteckt hat und schon ist der Gefahr der Ansteckung untereinander ein wenig der Riegel vorgeschoben!", meinte der Doktor Karbinzel, der mit hinter dem äußerst geraden Rücken verschränkten Armen neben der Königin stand und ebenfalls hinab in den Hof blickte. "Aber ich denke nicht, dass dies ausreichen wird, bei der Gefahr, die von diesem Virrus ausgeht, Hoheit!", fügte er jetzt noch hinzu und seine zusammengewachsenen Brauen begannen sich besorgt ineinanderzuschieben.

Den jungen Medikus konnte man sehr wohl eine imposante Erscheinung nennen. Obwohl er noch keineswegs zur Fülle neigte, konnte er doch ein breites, kräftiges Kreuz sein eigen nennen, das durchaus in der Lage zu sein schien, auch eine größere Last zu tragen. Die Züge unter seinem etwas krauslockigen, dunkelblonden Haupthaar strahlten eine ungeheure Anziehungskraft aus, ohne dass man hätte sagen können, woran dies genau liegen mochte. Die Nase, der Mund, Kinn und Augenpartie, alles war wohlgeformt und von beinahe vollendeter Symmetrie. Man hätte eigentlich den jungen Mann als hübsch bezeichnen müssen, wenn, ... ja wenn nicht alles in seinem Antlitz nicht recht zueinander hätte passen wollen. Doch ist auch dies wohl kaum die richtige Beschreibung. Sooft man dem Doktor Karbinzel ins Gesicht blickte, so sah man etwas anderes, irgendeine Kleinigkeit, die einem ins Auge fiel, und dennoch hätte niemand den Mann zu beschreiben gewusst. Aber ist es nicht im Grunde oft so, dass man gerade bei jemandem, der tatsächlich als eine besonders anmutige Erscheinung gelten muss, eben deshalb gerade gar nicht sagen kann, was das Besondere an demjenigen im Eigentlichen ausmacht? Nein? Nicht? Na dann eben nicht!

 

"Sie sind also krank, die armen Kleinen?", fragte jetzt die Königin Wurstsalat, bemüht ihrer Stimme den Anstrich ihres erlauchtesten Mitgefühls zu geben.

"Nun, Majestät, sagen wir es einmal so. Sie tragen die Krankheit in sich!", erklärte Karbinzel mit ruhiger, sanfter Stimme. Er sprach immer in einem Tonfall, der bei beinahe allen Leuten, welchen er begegnete, sogleich das Gefühl erzeugte, diesem Mann könne man alles anvertrauen, sogar die schlimmsten Sünden, die man noch nicht einmal dem Pfarrer im düstersten Beichtstuhl gegenüber hätte erwähnen mögen.

"Sie tragen die Krankheit in sich, sind aber selbst nicht krank!? Lieber Doktor, ich habe nicht die allergeringste Ahnung, was sie mir damit sagen wollen!" Jeden anderen als den Doktor Karbinzel hätte die Königin Wurstsalat angeherrscht, wenn er mit einem solchen, für ihre Ohren verworrenen Gerede gekommen wäre. Seltsamerweise zeigte sie dem jungen Mann gegenüber eine Nachsicht, die sie an sich noch niemals kennengelernt hatte.

"Nun, Hoheit, sie tragen den Virrus in sich, ich habe bei allen das Blut untersucht, und ..."

"Um Gottes Willen, Doktor. Sie haben die Kinder doch nicht aufgeschnitten, nur um ihr Blut zu begutachten?" Die Vorstellung hieran jagte einen wohligen Schauer über den Rücken der Königin, was jedermann wohl für Anteilnahme gehalten hätte.

"Wo denkt ihr hin Hoheit? Ich bin Arzt und kein Schlächter", meinte Karbinzel mit amüsiert gespielter Entrüstung. "Nein, man nimmt ein Jaukerl, führt eine hauchdünne Nadel in die Vene des Kindes und schon haben wir wenige Tropfen des geheimnisvollen Lebenssaftes gewonnen, der dann in meinem Labor untersucht werden kann!"

"Mit diesem Mikrofant ..?", fragte jetzt interessiert die Königin, die glaubte, sich an ein solches Wort zu erinnern.

"Mikroskop, Hoheit! Man nennt den Apparat Mikroskop!", wurde sie sogleich von Karbinzel verbessert. Normalerweise würde sie sich solch eine Unverschämtheit von niemandem gefallen lassen, das heißt, sie würde dann einfach darauf drängen, dem Ding nun eben den Namen Mikrofant zu geben, immerhin war sie die Königin! Aber diesem jungen Mann konnte sie einfach nicht böse sein. "Genau, Hoheit, und bei dieser Untersuchung des Blutes der Kinderlein musste ich zu meinem Entsetzen feststellen, dass zumindest einige von ihnen besagten Virrus in sich tragen!"

"Ja, Doktor, das ist besorgniserregend, aber jetzt da die Kinder geknebelt sind ..."

"Man nennt es Mundschutz, Euer Majestät!"

"Nun gut, jetzt da sie sozusagen maulgeschützt sind, können sie wohl auch nicht mehr krank werden? Das ist doch sehr beruhigend!", meinte die Königin und hoffte, dass dieser Zustand anhalten würde, wenigstens bis zum Sommer, den sie üblicherweise auf ihrem Landsitz weit im Süden des Ländchens zuzubringen gedachte, fernab von jeglichem Kindergeplärre.

"So einfach verhält sich die Sache nicht, leider!", erklärte der Doktor und erneut schienen sich die feinen blonden Härchen seiner Brauen über der Nasenmitte miteinander verhaken zu wollen. Durch seine strahlend blauen Augen zogen leichte Wolkenfelder, glaubte die Königin zu bemerken, als sie den gelehrten jungen Mann nun anblickte. "Die Kinder könnten andere Kinder anstecken, und nicht nur dies. Für Erwachsene stellt das Virrus eine weitaus größere Gefahr dar. Wie ihr seht, leiden die betroffenen Kleinen beinahe in keiner Weise darunter, doch sollten sie ihre Eltern damit anstecken, so könnte dies überaus schlimme Folgen zeitigen. Von den Großeltern erst gar nicht zu sprechen!"

"Aber Doktor, ich dachte ein wenig Schnupfen ..."

"Ja, wenn es sich lediglich um ein wenig Schnupfen handelte, Hoheit. Dieses bösartige Ding befällt gerade bei Personen von einem höheren Alter die verschiedensten Organe des Körperinneren. Organe, von welchen, Ihr, Eure Hoheit möglicherweise noch niemals etwas gehört habt, und deren Funktionsweise nur als unappetitlich zu bezeichnen wäre!"

"Ach", stammelte die Königin Wurstsalat, die sich fragte, ob Karbinzel tatsächlich glaubte, eine Königin müsse nicht auch einmal zum Abort. Sogar ihr Vetter der jetzige Kaiser des Reiches suchte dieses bewusste Örtchen immerhin auf und vollführte dortens gänzlich unaussprechliche Dinge, wie die Prinzessin von einstmals sich erinnerte einmal beobachtet zu haben. 'Aber was für ein Unsinn', dachte sie gleich darauf, immerhin war der Mann Medikus. Und noch dazu ein ganz und gar vorzüglicher, trotz seiner jungen Jahre. "Gut gut, lieber Doktor. Aber wie ist es zu verhindern, dass meinen Untertanen solch ein grässliches Schicksal droht?"

"Wir werden wohl nicht umhin kommen, die Kinder dort drunten erst einmal in ihrem Gehege zu belassen, wie auch die Kindergärtnerinnen fürs Erste nicht des abends zu ihren Familien zurückkehren dürfen!", erklärte Karbinzel jetzt seufzend. 

'Ach, was für ein mitleidendes Herz er doch besitzt, der Herr Doktor!', dachte die Königin Wurstsalat bei sich. Das würde allerdings ein hübsches Geschrei geben vonseiten ihrer Hofdamen, wenn sie ihre verhätschelten Bälger nicht mehr zu sehen bekämen. 

"Glaubt Ihr wirklich, das ist unbedingt notwendig, Doktor?", fragte sie daher, sie glaubte jetzt schon die anklagenden Ausrufe der Freifrau von Arnheim in ihren Ohren klingeln zu hören. Die vergötterte ja geradezu ihren Sprössling, diesen kleinen Peter oder Paul, oder wie immer er denn heißen mochte?

"Ja, so leid es mir auch tut, Hoheit!"

"Na denn!"

"Wir sollten dennoch nicht verabsäumen, auch den Hofstaat Eurer Majestät einmal etwas genauer unter die Lupe zu nehmen!"

"Sie meinen ...?"

"Ganz genau, Euer Majestät. Möglicherweise haben sich doch schon einige angesteckt!"

"Aber, Doktor, das klingt ja jetzt in keiner Weise beruhigend. Ich meine ..., und was ist mit mir selbst?"

"Darüber macht Euch doch bitte keine Gedanken. Bei Euch sehe ich schon allein an der zarten, rosigen Beschaffenheit Eurer Gesichtshaut, dass Ihr weder den Virrus in Euch tragt, noch dass Ihr jemals daran erkranken könntet. Hier schützt Euch Eure Abkunft vom allerhöchsten Adel!"

Dies beruhigte die Königin ein klein wenig, sie hatte sich aber schon selbst gedacht, dass eine königliche Abstammung einen immerhin vor solch einem schnöden Virrus schützen würde. Es war nicht auszudenken, wenn man auf einmal die gleichen Krankheiten wie Krethi und Plethi bekommen könnte. Wo käme man denn schließlich da hin? Das wäre ja beinahe so etwas wie demokratische Umtriebe zu nennen. Immerhin hatte eine Königin nicht einfach an einem Schnupfen sondern an einem Rachen oder Nasenkatarrh zu leiden. Außerdem war ihr bei dem Gedanken, sich eine Nadel unter die Haut stechen zu lassen, um an ihr blaues Blut zu gelangen, leicht schwindelig geworden. Gut, immerhin noch besser als aufschneiden, aber dennoch wohl eine recht viehische Angelegenheit.

"Kann ich Euch noch in irgendeiner Weise unterstützen bei Eurem Vorhaben, lieber Doktor?", fragte die Königin Wurstsalat, die nicht geizig erscheinen wollte, aber im Grunde davon ausging, dass es für einen solch jungen Medikus eine Ehre sein musste, den königlichen Hofstaat zu untersuchen. 

"Tatsächlich fehlt mir der richtige Ort, an dem ich auf vernünftige Weise arbeiten kann, Majestät. Das könnte nun wirklich zu einem Problem werden!", meinte jetzt  Karbinzel. "Seht Ihr, das Haus von Doktor Wackernagel ist dafür doch einfach ein wenig zu klein!"

"Na, es werden sich bestimmt hier im Schlosse Räumlichkeiten finden lassen, Doktor!"

"Ich dachte an etwas Größeres, Majestät, mir schwebt die Gründung einer richtiggehenden Institution moderner Naturwissenschaften vor, ein Institut, das selbstverständlich dann Euren Namen tragen sollte. Ich meine so etwas wie Königliches Institut Leopoldina! Was haltet Ihr davon, Majestät?"