Der Königin Wurstsalat Dritter Theil

Nachdem der Medikus gegangen war, begann sich die Königin Wurstsalat das erste Mal tatsächlich Sorgen um das Wohlergehen ihres Volkes zu machen. Und als ihr dies bewusst wurde, reagierte sie hierauf beinahe noch verstörter als wegen der  Angelegenheit selbst. So kannte sich die Herrscherin gar nicht! Doch immerhin hatte sie seit ihrer festlichen Krönung vor nun beinahe zwanzig Jahren immer allergrößten Wert darauf gelegt, von ihren Untertanen als gütige großherzige Regentin angesehen zu werden. Inzwischen glaubte sie fast selbst dem Bild, das der Redakteur der königlichen Postille für ihre Person zurechtgebastelt hatte. Wenn solch ein Beitrag dann noch dazu mit einer hübschen Zeichnung versehen war und Leopoldina beim Tätscheln irgendeines armseligen Gassenköters zeigte, dem sie im Palast eine letzte Heimstatt bot, da waren der Königin Wurstsalat beim Betrachten eines solchen Artikels schon einige Male die Tränen in die Augen gestiegen. Dieser Malzfinger schrieb aber auch so wunderschön; daran gab es wirklich nichts auszusetzen! Und auch der Zeichner, den man eigens aus dem fernen Florenz hat kommen lassen, verstand es mittlerweile, die Königin Wurstsalat so abzubilden, wie sie sich selbst am allerliebsten sah. Dieser Mann hatte schon nach der ersten Sitzung auf der Stelle ihre Schokoladenseite erkannt. Ein scharfes Auge besaß der allemal, dieser Nudelfresser! Immer schön die rechte Gesichtshälfte im Schlagschatten belassend, da eine hässliche Warze auf dieser Seite ihre Züge gröblich verunzierte; eine Warze, die noch dazu aussah wie ein winziger buckliger alter Mann, der ein Bündel Reisig auf dem Rücken trug. Wie oft nicht schon hatte Doktor Wackernagel der Königin angeboten, das Ding mittels eines seiner scharfen Skalpelle zu entfernen, doch fürchtete sich die Königin derart vor einer solchen Maßnahme, dass sie niemals hierauf eingegangen war.

Aber das nun tatsächlich ein Krankheitserreger ihr schönes Land befallen haben sollte, machte ihr jetzt schon ein wenig Sorge. Immerhin trug sie doch Verantwortung für ihre Untertanen, dachte die Königin Wurstsalat und straffte bei diesem Gedanken ihre Haltung. Ja, ein Ruck ging durch ihren gedrungenen Körper,  als sie sich dessen in vollem Ausmaße bewusst wurde. Nun, das Geld, was sie dem Doktor Karbinzel anvertraut hatte, würde dieser doch jedenfalls zu nutzen wissen, dachte sie zufrieden, obwohl sie äußerst ungern auf den Staatsschatz zugriff. Aber dieser junge Mann hatte sie gewissermaßen in seinen Bann gezogen. Der hatte so eine Art überzeugend zu wirken, dass man ihm kaum würde widersprechen können. Und diese Ernsthaftigkeit, mit welcher er sein Anliegen vortrug. Noch dazu würde ihr dieses Institut den Ruhm der Nachwelt einbringen, hatte Karbinzel gemeint, und dies schien ihr doch recht verlockend zu sein.

 

»Dereinst wird man auf das Institut Leopoldina herabsehen, als das erste seiner Art im Reich. Ganz auf Erkenntnis und Wissenschaftlichkeit ausgerichtet und zum Wohle der gesamten Menschheit erbaut!«, erklärte Karbinzel, als sie ihm den Beutel mit den Dukaten hinüberreichte. Diese Vorstellung gefiel der Königin wirklich äußerst gut.

Und der Doktor schien in dieser Beziehung keine Gefangenen machen zu wollen. Schon am Nachmittag des selben Tages konnte die Königin Wurstsalat von ihrem Balkon aus beobachten, wie sich dort draußen auf dem Feld, welches vormals zur benachbarten Grafschaft gehört hatte, etwas zu regen begann. Eine ganze Kolonne von Wagen machte sich auf, um dort mit den Bauarbeiten zu beginnen. Und da sie selbst recht wenig vom Fleiß der Handwerksleute ihres Landes hielt, konnte sich Leopoldina nur vorstellen, dass Karbinzel mit dem Geld, das sie ihm anvertraut hatte, nicht gerade sonderlich sparsam umging.

 

 

                                                                        ***

 

 

Pfarrer  Leppisch beobachtete die Geschehnisse in seiner direkten Nachbarschaft nun im Gegenteil zu seiner Königin mit einigem Argwohn. Was war hier nur los,  fragte sich der geistliche Herr, der sich als Ruhesitz hier draußen weit vor den Toren der Stadt angesiedelt hatte, um besagte Ruhe gerade vor einer solchen hektischen Betriebsamkeit genießen zu können. Und nun, alles dahin! Da hätte er auch in der Stadt wohnen bleiben können! Und was erbauten die Leute hier nur, so weit vor den Toren auf diesem unwegsamen Rübenacker? Dies blieb dem guten Mann fürs Erste ein vollständiges Rätsel. Und wenn er eines nicht leiden konnte, so waren es eben Rätsel oder Überraschungen.

Der Pfarrer war vor sein Gartentor getreten und noch bevor er auf den Weg sich hinausbewegt hatte, war ihm schon beinahe der rechte Fuß von einem der großen Räder einer in hohem Tempo vorbeirauschenden Kutsche plattgewalzt worden. Gerade noch konnte der geistliche Herr zurückspringen, wobei er mit dem Ellenbogen noch seinen Briefkasten herunterschlug, der dort an dem Zaun nicht gerade fachgerecht von ihm selbst angebracht worden war.

»Weg da, Alter!«, hörte er noch den Kutscher sich nach ihm umdrehend brüllen, schon als das Gefährt längst vorbei war.

’Was für ein unverschämter Gesell', dachte der Pfarrer Leppisch, der glaubte, diesen Kerl auf den Kutschbock noch nie in seinem Leben gesehen zu haben.

 

Der Pfarrer kannte jedermann aus der Gegend und dieser Rüpel gehörte auf keinen Fall zu seiner ehemaligen Gemeinde. Wahrscheinlich kam der Mann aus der angrenzenden Grafschaft, obwohl jetzt im Nachhinein betrachtet der doch eher gänzlich fremdländisch gewirkt hatte. Nur wenige hundert Meter fuhr der Wagen jetzt weiter, bis schließlich der Kutscher die Pferde auf gewaltsame Weise zügelte, was in unserem Kirchenmann größtes Mitleiden mit den Kreaturen hervorrief, die doch auch wie der Mensch von unserem gütigen Herrgott erschaffen worden waren. Einen winzigen Augenblick lang glaubte der Pfarrer im stoppelbärtigen Gesicht des Kerls die Augen rot aufleuchten zu sehen, bis der sich wieder nach vorne wandte und begann, sich um seine Zugtiere zu kümmern, die von einer Pferderasse waren, wie sie hier im Königreich seltsam fremd wirkte. Die Tiere waren von der Schulterhöhe her durchaus mit denjenigen Rössern vergleichbar, die die schweren Kutschen der Brauereien zogen, doch schienen die Köpfe dieser Pferde hier noch weitaus wuchtiger zu sein, dachte Pfarrer Leppisch gerade, als er auch schon wieder aus diesen ein wenig abschweifenden Gedanken gerissen wurde.

»Herr Pfarrer, ihr Kaffee wird langsam aber sicher doch kalt!«, hörte er die Stimme der guten Frau Murbichler an seine Ohren dringen. Sie hatte so eine enervierend hohe Stimmlage, die er gerne mit dem Quietschen von Schulkreide auf Schiefertafeln verglich. Ein Scherz, mit welchem er schon des Öfteren den Stammtisch im Grünen Ochsen erheitert hatte. Besonders der Bauer Winzlinger wunderte sich schon seit Jahren darüber, wie es der Pfarrer nur Tag für Tag mit dieser Person aushielt?

»Ich komme schon, Frau Murbichler!«, rief Leppisch ins offene Küchenfenster seines Häuschens hinein. Tatsächlich fürchtete sich der Pfarrer gar ein wenig vor seiner Besorgerin, wahrscheinlich hätte er sie aus diesem Grund schon niemals aus seinen Diensten entlassen können. Alleine das Geschrei, das sich in einem solchen Fall erheben würde, wäre wirklich unerträglich gewesen. Und das, obwohl die Murbichler immerhin schon achtzig Jahre zählen musste und man ihr sämtliche Hausarbeiten gar nicht mehr zumuten konnte. Noch dazu litt sie seit Jahren an schlimmem Reißmathismus und der Pfarrer hatte sich auch in diesem Frühjahr genötigt gefühlt, den alljährlichen Hausputz zum allergrößten Teil selbst zu erledigen.

Seit seine liebe Frau Mutter den Weg alles Irdischen gegangen war und nun vom Himmel aus gütigen Auges auf ihn hinabblickte, wie es sich der Pfarrer gerne vorstellte, wobei er alle Fehler und Mängel im Wesen der Verblichenen zur Gänze verleugnete, hatte er sich schnell nach einer Besorgerin umgesehen und war schließlich auf seine ältliche Nachbarin gestoßen, damals als er noch in der Stadt das Pfarrhaus 'Unserer lieben Frau' bewohnt hatte. Und so war die Murbichlerin, als sich Leppisch in den Ruhestand zurückzog, mit ihm zusammen in das Häuschen hier draußen gezogen. Sie hatte darauf bestanden, ihm weiterhin beizustehen, sie könne ihn unmöglich schmählich im Stiche lassen, obwohl sie die Landluft nicht sonderlich gut vertragen konnte, wie sie behauptete.

»Sagen Sie, Frau Murbichler, was wird denn dort drüben errichtet? Ich meine, bezüglich dieses Geländes ist doch immerhin das letzte Wörtchen der Gerichtsbarkeit noch gar nicht gesprochen? Ich denke, Herzog Eustace wird es nicht besonders gern sehen, wenn hier Menschen aus dem Königreich angesiedelt werden, ohne dass über die Grenzziehung zwischen unseren beiden Ländchen endgültig entschieden ist?«, meinte der Pfarrer jetzt, der ganz genau wusste, dass, wenn jemand mit Neuigkeiten aufwarten konnte, es zweifelsfrei seine Hausbesorgerin war. Obwohl sie nicht mehr ganz so gut hörte, bekam sie doch alles mit, was auf der Straße so geredet wurde. Pfarrer Leppisch glaubte insgeheim, dass die Alte nur so tat, als sei sie halbtaub. Nur wenn sie mit irgendetwas nicht belästigt werden wollte, reagierte sie auf die Anrede in keiner Weise. Wenn aber die Winzlinger des Mittags vorbeikam und sich in der kleinen Küche breitmachte, so dass für den Hausherrn selbst nur noch ein kleines Eckchen am Tisch verblieb, da konnte er diese beiden Krähen miteinander tuscheln hören, ohne selbst jemals ein einziges Wort zu verstehen.

»Man munkelt, hier wird ein Hospital errichtet, Herr Pfarrer«, erklärte Frau Murbichler mit vollem Mund. Leppisch konnte viel zu deutlich das zuvor in den Kaffee getunkte Butterhörnchen erkennen.

»Ein Hospital, so, so!«

»Oder vielmehr ein Inschtituut, hat wenigstens die alte Winzlinger behauptet, immerhin grenzen die Felder ja an ihre eigenen!«, schmatzte die Besorgerin, und dem Pfarrer war wieder einmal ein Rätsel, warum es immer die alte Winzlinger hieß, immerhin war die Frau doch mindestens dreißig Jahre jünger als Frau Murbichler.

»Ein Institut, also?«

»Was immer das heißen soll?«

»Nun ein Institut, liebe Frau, ist eine Einrichtung, in welcher Wissenschaft betrieben wird!«, erklärte jetzt Pfarrer Leppisch und bereitete sich innerlich schon einmal auf den Wortschwall vor, der bei der Erwähnung des Wortes 'Wissenschaft' jetzt ohne Zweifel kommen musste.

»Wissenschaft, also Herr Pfarrer, wenn ich das schon höre!«, kam es auch gleich vonseiten der alten Frau zurück. »Diese gottlosen Alchemisten am Ende gar, die nicht aufhören wollen, die Schöpfung unseres Herrn in Abrede zu stellen. Aber das ist ja entsetzlich! Manchmal wünschte ich mir die heilige Inquisition wieder herbei! Die würde mit diesem Hokuspokus aber mal in Nullkommanix aufräumen!«

»Aber, Frau Murbichler, jetzt machen sie aber mal halblang!« Doch die Worte des Pfarrers gingen in der Schimpftirade wie so oft völlig unter.

»All dies grausige Hexenwerk! Man munkelt, manche dieser Gesellen hätten es fertiggebracht, schon Tote aufzuschneiden, nur um ihr Inneres zu begutachten und zu vermessen. Welch eine grauenhafte Vorstellung, so ausgeschlachtet zu werden! Und wozu? Nur um zu beweisen, dass eben die Seele nicht existiere, dass sie nur eine Erfindung der heiligen Kirche selbst sei, und der Mensch schließlich nur aus Knochen Fett und Körpersäure bestünde! Wie, Herr Pfarrer kann es möglich sein, dass unsere hochverehrte Königin solcherlei ketzerische Umtriebe duldet? Und gar noch diesen ungläubigen Teufeln den Boden hierzu bereitet?!«

»Die Sache hat also durchaus die Genehmigung der obersten Stellen?«

»Das ist es ja gerade, was mich so aufregt. Es wird gesagt, die Königin selbst hätte die Erbauung angeordnet. Deshalb gerade kann ich kaum glauben, dass es sich bei diesem Inschtituut um etwas handelt, in welchem diese Wissenschaft betrieben werden soll!«

»Aber sagten Sie nicht gerade ebenso etwas von einem Hospital?«

»Hospital und Inschtituut, hat die Winzlinger gemeint! Sie hat mit dem Bauherrn gesprochen, einem Doktor Karpinkel, oder so ähnlich. Und der hätte ihr erklärt, dass dort Kranke untersucht werden sollen!«

»Na, da sehen Sie mal, Frau Murbichler, dann kann es wohl so schlimm ja nicht sein!«

’Institut, Hospital, was auch immer', dachte Leppisch. ’Es wird wohl schon seine Richtigkeit haben damit.‘ Er würde den Gatten der Frau Winzlinger abends am Stammtisch einmal aushorchen. Vielleicht wusste der ja mehr. Er selbst hatte im Grunde nichts gegen die Wissenschaft als solches einzuwenden. Im Gegensatz zu den allermeisten seiner schwarzberockten Kollegenschar war Leppisch der Ansicht, dass es keineswegs dem Willen des Herrn zuwiderliefe, wenn man den Geheimnissen der Schöpfung auf die Spur kommen wollte. Wie anders sollte ein Fortschritt der Menschheit möglich sein, als gerade zu begreifen, was hinter allem Materiellen stecken mochte? Wie waren Knochen beschaffen, wie verhielt es sich mit den Körpersäften, wie Blut, gelber und schwarzer Galle, und Weißschleim? Und dann die Gestirne dort droben am Himmelszelt. Galileo Galilei, Kopernikus, Kepler allesamt hatten diese forschenden Geister mit Anfeindungen der obersten Kirchenbehörden zu kämpfen gehabt. Glücklicherweise war es heute nicht mehr so, dass sogleich die Heilige Inquisition einen auf die Streckbank legen konnte, wie ehedem, wenn man allein durch die Beobachtung der Himmelsgestirne zu ganz neuen Betrachtungsweisen unserer Welt gelangte. Für den Pfarrer bestand in keiner Weise ein Widerspruch zu den in der Heiligen Schrift niedergelegten Geschichten. Ganz im Gegenteil empfand Leppisch es eher als eine Bereicherung, wenn sich neue Erkenntnisse mehr und mehr durchsetzten. So könne dann auch die Bibel in einem völlig neuen Licht erscheinen.

Hier stand er allerdings recht alleine da. Die meisten kleinen Dorfpfarrer wie auch die obersten Kleriker, standen dem allen eher skeptisch bis ablehnend gegenüber, und jedesmal dauerte es mehrere hundert Jahre bis man etwas als Tatsache anerkannte, was bei genauerer Betrachtung selbst dem dümmsten Bauern auf dem Felde in der Zwischenzeit ganz und gar einleuchtete. Der Einfluss des Mondes auf die Gezeiten zum Beispiel, oder dass im Erdinneren riesige Ströme glühenden Gesteins auf und abschwappten. Gut, letzteres war nun vielleicht dem Landmann nicht bewusst, aber der Pfarrer beschäftigte sich gerne mit solchen Theorien, und woher sonst sollte denn die Vorstellung von einer Hölle wohl kommen? Hat nicht gerade eine solche Erkenntnis ganz vorzüglich genau dies bewiesen?

 

 

4

 

Der Bauer Winzlinger hatte allerdings an diesem Abend nichts mehr zu dem Thema beizutragen gehabt, jedenfalls nicht mehr als das, was die Murbichlerin durch seine Gattin in Erfahrung gebracht hatte. Dennoch war es ein durchaus lustiger Abend gewesen, obwohl jetzt auf dem Heimweg der gute Pfarrer doch ein klein wenig zum Schwanken neigte. Vielleicht hätte er das letzte Viertel Wein weglasssen sollen, dachte er gerade, als er schon wieder über einen Stein stolperte. Zum Glück waren die Straßen wenigstens nicht mehr schlammig, wie noch vor zwei Wochen, als das Schmelzwasser aus den Bergen den schmalen Fluss über die Ufer hatte treten lassen, so wie eigentlich jedes Jahr. Besonders da der Pfarrer, auch wenn er sich im Ruhestand befand, immer noch die beinahe bis zum Boden reichende schwarze Soutane trug, deren Saum dann immer schlammbespritzt war, was ihm wiederum den bösen Tadel der Murbichler einbrachte, obwohl die sich doch gar nicht mehr mit dem Besorgen der Wäsche beschäftigte, sondern diese Arbeit, wie sie sagte, ausgelagert hatte. Ein vierzehnjähriges Mädchen aus der Nachbarschaft hat diese Aufgabe gegen ein geringes Entgelt gerne übernommen.

Der beinahe volle Mond trat gerade hinter den dunklen Wolken hervor und Pfarrer Leppisch konnte nun wenigstens wieder etwas von seinen Füßen erahnen, die ihn tapfer der Heimstatt entgegentrugen. Er blickte nach rechts, dorthin, wo der umkämpfte Rübenacker im Schatten der Alleebäume lag, und blieb dann abrupt stehen.

Was war denn das für ein Ungetüm, das dort vorne aus dem Feld erwachsen war? Zuerst hätte der Pfarrer den Schatten beinahe für so etwas wie einen riesigen Drachen gehalten, doch wahrscheinlich kam er nur auf diesen Gedanken, weil er erst kürzlich in einer Zeitschrift gelesen hatte, dass man im weit entfernt gelegenen Engelland riesige Knochen ausgegraben haben wollte, die man zuerst für diejenigen eines Elefanten hielt, welcher mit Hannibal über die Alpen gekommen war. Dann aber hat man feststellen müssen, dass sie zu solch einem Tier nicht passen wollten, ja dass sie sogar von ihrer Größe her weitaus mächtiger beschaffen waren als die Knochen eines solchen afrikanischen Rüsseltiers. Einige Forscher behaupteten gar, man hätte es hier mit den Überresten eines urzeitlichen Drachen zu tun.

Pfarrer Leppisch konnte sich durchaus mit dem Umstand anfreunden, dass dereinst tatsächlich solche riesigen Viecher den Planeten bevölkert haben mochten. Vielleicht mussten ja sogar Adam und Eva mit solcherart Monstrositäten kämpfen, nachdem sie das Paradies hatten verlassen müssen. Wer konnte das schon sagen?

Da jedoch erkannte der Pfarrer, dass es sich nun keineswegs um ein Ungeheuer handelte, welches dort vorne auf dem Acker stand, sondern um das Gerüst eines Gebäudes, auf welches der Mond nun ein beinahe unheimliches Licht warf, so dass es ein wenig wirkte wie ein solches Drachenwesen, welches sich noch dazu zu bewegen schien. Doch handelte es sich bei diesem Phänomen freilich nur um so etwas wie eine optische Täuschung, da das Licht des Mondes immer wieder durch den Wolkenflug flackerte und dadurch sich Licht und Schatten in einem fort abwechselten.

»Eieieiei«, murmelte der Pfarrer vor sich hin. »Ich muss doch ein wenig besoffener sein als ich gedacht hab!«

Aber wie hatten die nur so schnell dieses riesige Gerüst hochziehen können? Das war ja beinahe noch unglaublicher als in dem Ding einen feuerspeienden Drachen sehen zu wollen? Gerade heute morgen erst hat man doch mit den Arbeiten begonnen.

»Ach wahrscheinlich wirkt es einfach nur jetzt im Licht der Nacht so riesig«, beruhigte sich Leppisch nun ein wenig selbst und begann das fröhliche Liedchen zu pfeifen, welches kurz zuvor im Ochsen der alte Wursinke auf seiner Fidel zum Besten gegeben hatte. Es gab doch auch einen Text dazu, überlegte er jetzt irgendetwas mit 'Liebchen fein, oh lass mich doch ein'. oder so ähnlich. Schon ein wenig anzüglich das Ganze, dachte er nun grinsend. ’Was für ein Glück, dass ich nicht mehr Sonntags von der Kanzel herunter solche Sündhaftigkeit anprangern muss!‘

Ganz im Gegenteil unterhielt sich der Pfarrer Leppisch heutzutage schon gerne mal mit dem einst so verpönten Kartenspiel im Grünen Ochsen. Jetzt mit siebzig konnte er sich das sehr wohl herausnehmen, befand er, und diese Sache hatte ihm ganz aufrichtig angefangen, einen Höllenspaß zu bereiten, um es einmal etwas salopp auszudrücken. Nur gut, dass die Murbichler davon keine Ahnung hatte. Er würde doch wohl einiges an ihrer Achtung verlieren, wenn sie hierüber Bescheid wüsste.

Morgen, ja gleich am nächsten Morgen würde er hinübergehen und sich dies Bauwerk einmal zeigen lassen. Immerhin war er doch einer der Honoratioren der winzigen Gemeinde, die man im Eigentlichen allerhöchstens als einen Weiler bezeichnen konnte. Fünfundfünfzig Einwohner immerhin, allerdings über eine recht weite Fläche verteilt. Der nächste Nachbar, aus dessen Hof die kleine Wäscherin stammte, war beinahe eine viertel Meile entfernt, und zum Ochsen war es gerade noch einmal so weit. Zum Glück jedoch fühlte sich der Pfarrer für sein Alter noch einigermaßen rüstig, ganz im Gegenteil zur Murbichlerin, die mittlerweile dazu übergegangen war, beinahe alles, was sie zur Führung des ehrwürdigen Haushalts benötigte, anliefern zu lassen. Nun gut, ihr konnte man nun auch wirklich nicht mehr zumuten, solch eine weite Strecke bis in den eigentlichen Ortskern, der im Grunde lediglich aus dem Ochsen einem Kohlehändler und einem Viktualienhandel bestand, zu Fuß zu bewältigen. Doch jetzt, nachdem er endlich sein Haus betreten hatte, fühlte sich der Herr Pfarrer tatsächlich todmüde und fiel schließlich in sein Bett, schaffte es aber gerade noch, wenigstens die Schuhe auszuziehen.

 

 

»Frühstück ist fertig, Hochwürden!« Die Stimme der Murbichlerin drang mit Nadelschärfe ins pochende Hirn Pfarrer Leppischs.  Sein Kopf schmerzte auf eine Weise wie selten an solchen Morgen danach, wenn er im Ochsen einen über den Durst getrunken hatte. Aber dieser Umstand konnte nun nicht an den wenigen Schoppen Wein allein liegen, nein, hier spielte wohl der hausgebrannte Fusel des Ochsenswirts die Hauptrolle. Noch dazu brannte der Mann das Zeug auch noch ohne eine hierfür eigentlich benötigte staatliche Berechtigung. Das war ihm angeblich zu viel bürokratischer Aufwand. Dabei war sich der Pfarrer sicher, dass der Wirt lediglich sich die drei Gulden sparen wollte, die der Erlaubnisschein im Jahr ihn kosten würde.

Jetzt fiel Leppisch erst auf, dass er in der Soutane eingeschlafen war und sein Hut hatte es ebenfalls nicht an den für dieses Kleidungsstück vorgesehenen Platz draußen oberhalb der Garderobe geschafft, sondern war einem der Bettpfosten achtlos übergestülpt worden. Und das auch noch obwohl der Pfarrer nur allzu genau wusste, wie das Hütchen sich durch eine solche Misshandlung damit rächen würde, dass es den halben Tag lang eine kleine Beule vom Holz des Pfostens zeigte. Man konnte so schon von weitem dem Herrn Pfarrer ansehen, wo er in der letzten Nacht gewesen war.

»Hochwürden, hast du eigentlich schon einmal aus dem Fenster gesehen?!«, schnatterte die Murbichler.

Er hasste es, wenn sie ihn mit diesem Ehrentitel ansprach, noch dazu das Du, das daraufhin unwillkürlich folgen musste. Sie bemerkte niemals, dass eine solche Art der Anrede eigentlich unvereinbar miteinander war. Sonst nannte sie ihren Dienstherren ja auch nur Herr Pfarrer und Sie.

»Aus dem Fenster, nein!«, murmelte Leppisch, blickte hinüber durch die Scheibe, durch welche das Sonnenlicht des Morgens ihn sogleich unerträglich stechend in die müden Augen fuhr.

»Sieh dir das doch wenigstens einmal an, Hochwürden!«

»Nun tun Sie mir den Gefallen und bleiben einfach einmal eine Weile ganz genau so stehen!«, raunte der Pfarrer. Die Murbichler verdeckte mit ihrem breiten Rücken aufs Wunderbarste gerade das Fenster, so dass sich ein wohltuender Schatten auf den Platz des Pfarrers gesenkt hatte.

»Wieso das denn?«

»Na, da lassen Sie mich doch erst einmal einen Bissen zu mir nehmen, Frau! Es ist immerhin noch früh am Morgen!«

»Es ist schon zehn, Herr Pfarrer, falls Sie noch keinen Blick auf die Uhr geworfen haben!«, kam es in anklagendem Ton zurück.

»Mein Gott, ich bin immerhin im Ruhestand und muss nicht schon um sechs Uhr raus wie ehedem! Soviel Freiheit wird man sich wohl noch gönnen dürfen!«

»Ach, was soll ich denn da noch sagen? Morgenstund ist eben aller Laster Anfang!«

 

Ein Gespräch, das die beiden nun schon so oft geführt hatten, dass es dem Pfarrer gehörig auf die Nerven ging. Da er den weiteren Verlauf nur allzu gut kannte, stand er schließlich seufzend auf und linste vorsichtig über den Rücken der Murbichlerin durch das Küchenfenster, das direkt hinaus auf den brachliegenden Rübenacker blickte.

Wenn sich nicht das störrische graue Haupthaar des Pfarrers jetzt schon in einer Art vollendeter Unordnung befunden hätte, so würde es sich bei dem Anblick, der sich Leppisch bot, sichtbar gesträubt haben. Dort draußen, vielleicht acht, neunhundert Schritt entfernt, ragte ein dreistöckiger Bau auf. Mitten auf dem Felde, auf welchem am Vortag nicht das Kleinste davon zu sehen gewesen war. Jetzt erinnerte sich der Pfarrer endlich an seinen nächtlichen Nachhauseweg. Aber da war ihm erschienen, als ragte dort draußen lediglich ein vorläufiges Gerüst auf. Und keineswegs war zu erwarten gewesen, dass ein Gebäude, das dort wohl geplant war, zu errichten, im Ablauf eines halben Tages fertiggestellt hätte werden können.

»Aber, das ist ja ....!«, rief der Pfarrer aus und konnte den Blick nicht von dem dreistöckigen Bauwerk abwenden. Ja, es schien ihm, als seien sogar die Fenstergläser allesamt eingesetzt worden, noch dazu hatte man die Balken des Fachwerks schon mit der üblichen ochsenblutroten Farbe bestrichen, wie auch die Wände weiß gekalkt. Das konnte nun keineswegs mit rechten Dingen zugehen!

»Ganz schön fleißig die Burschen, was Herr Pfarrer? Das müssen Sie aber jetzt zugeben!«, meinte Frau Murbichler triumphierend. Es klang nicht nur so, als hätte sie dort draußen ein wenig selbst mit Hand angelegt, sondern als hätte sie jeden einzelnen Dachbalken persönlich an seinen Ort verbracht.

»Aber das kann ja gar nicht möglich sein!«

»Was kann nicht möglich sein, Herr Pfarrer?«, fragte die Besorgerin jetzt beinahe ärgerlich zurück, als ob ihr Herr nichts anders zu tun hätte, als immer irgendwo das Haar in der Suppe zu suchen, damit er sich über irgendetwas grundlos würde mokieren können. »Ich sag' doch, das sind ganz fleißige Leutchen dort draußen. Ich hab ihnen sogar eine Kanne Kaffee hinausgebracht am Morgen, weil die Ärmsten doch die ganze Nacht durchgearbeitet haben müssen. Und noch dazu so unglaublich rücksichtsvoll leise! Oder hast du etwa irgendetwas gehört, Hochwürden?«

»Gehört ...?«, stammelte Leppisch, der mit den Worten der Murbichler momentan gar nichts anzufangen wusste.

»Die sind alle sehr nett, diese Ausländer. Hätte ich gar nicht gedacht! Ich meine, sie sehen allesamt schon ein wenig wild aus, aber vielleicht ist es ja Mode da, wo sie herkommen!«, quasselte die Alte weiter. Der Pfarrer verstand immer noch kein einziges Wort und starrte unentwegt ungläubig aus dem Fenster hinaus auf das enorme dreistöckige Bauwerk. Ganz unbewusst hatte er angefangen, die Fenster dort drüben zu zählen, und kam auf die Anzahl von dreiunddreißig, ohne dass er nun mit dieser Erkenntnis irgendetwas hätte anfangen können.

»Nett! Wild! Dreiunddreißig!«, meinte er nur, was wiederum Frau Murbichler dazu brachte, zu vermuten,  es stimme irgendetwas nicht ganz mit dem Hausherrn.

»Ist Dir vielleicht nicht ganz wohl, Hochwürden. Vielleicht war der Speck auf dem Rührei ein wenig zuviel?«, begann sie zu fragen. Ein Blick auf den Tisch jedoch überzeugte sie von der Tatsache, dass der Pfarrer noch nicht einen einzigen Bissen davon verzehrt hatte. »Sie sehen aber wirklich nicht wohl aus!«, stellte sie gleich darauf fest. »Vielleicht sollten sie sich ein wenig auf die Chaiselongue legen? Vielleicht mit einem feuchten Tuch unterm Nacken!?« Die Sache mit dem feuchten Lappen brachte die Murbichler im Übrigen bei beinahe jeder Gelegenheit an. Besagte Methode schien für sie so eine Art Allheilmittel zu sein.

Doch sah Pfarrer Leppisch in der Tat hundserbärmlich aus, und genauso fühlte er sich auch. Sein Gesicht erschien im blendenden Licht des Morgens nun von einer leichenhaften Blässe, und so kamen die tiefen Ringe unter seinen Augen erst so recht zur Geltung. Er begann nun langsam aber sicher an seinem Verstand zu zweifeln.

»Sagen Sie, Frau Murbichler. Diese Bauarbeiten ...«

»Ja, Hochwürden?«

»Diese Bauarbeiten haben doch gestern früh erst begonnen, oder ...?«

»Ja, freilich! Ist es nicht ganz erstaunlich, wie man mit etwas Fleiß und mit diesem Krangestell, wie man es wohl nennt, und mit den richtigen Leuten in so kurzer Zeit schon jetzt beinahe fertiggeworden ist?«

»Das ist es ja gerade!«

»Wie meinen?«

»Na, das ist doch ein Ding der Unmöglichkeit, Frau Murbichler, das müssen doch selbst Sie einsehen!?«

»Haben Sie sich die Kerle einmal angesehen, Herr Pfarrer? Da sind aber wirklich ein paar ansehnliche Mannsbilder dabei!«

 

 

 

Am gleichen Morgen blickte auch die Königin Wurstsalat, wenige Meilen vom Haus des Pfarrers Leppisch entfernt, herab von ihrem Balkon und glaubte dort draußen tatsächlich schon etwas zu erkennen. Sogleich ließ sie sich ihr Opernglas bringen, schraubte eine geraume Weile nun daran herum und rief dann aus: »Das ist ja ganz und gar wunderbar, da steht es ja schon, mein Institut. Na, wenn das keine gute Geldanlage war, weiß ich auch nicht!«

 

Schon bald darauf sprach der Doktor Karbinzel bei der Königin Wurstsalat vor, um auch gleich wieder mit in äußerstem Maße besorgniserregenden Erkenntnissen aufzuwarten. Er hätte unter anderem die Freigräfin Zurlemann und ihre Tochter untersucht und beide, die hochherrschaftliche Dame, wie auch ihr Spross, schienen ihm am Virrus zu leiden. Dazu noch die Gouvernante der Kleinen und ihr Kutscher, nebst Gemahlin.

»Wir werden wohl nicht umhin kommen, die ganze Familie samt Hausstand für eine geraume Weile in Quarantäne zu belassen, Hoheit!«, erklärte der Medikus und starrte bei diesen Worten sinnend vor sich hin, was die Königin Wurstsalat annehmen ließ, die Sache sei tatsächlich wesentlich ernster noch, als sie bislang angenommen hatte.

»Karan ...was?«, fragte nun die Königin und seltsamerweise fühlte sie sich vom Ausdruck in der Stimme des Doktors derart eingeschüchtert, wie sie es selbst ihrem eigenen Vater gegenüber, der ein recht herrisches Wesen an den Tag legen konnte, niemals gewesen war.

»Quarantäne«, meinte jetzt der Medikus geduldig. »Das bedeutet, alle Personen der freigräflichen Familie sollten auf ihrem Gut verbleiben, damit nicht noch mehr Menschen mit dem Virrus angesteckt werden!«

»Ach so! Na denn! Dumm nur, dass die Freigräfin die einzige Person im Schlosse ist, mit der man eine vernünftige Partie Halma spielen kann!«

Die Königin Wurstsalat hatte eine Vorliebe für dieses recht simple Brettspiel. Sie erfreute sich im Grunde nur an sehr wenigen Dingen wirklich, und das Bewegen der bunten Figürchen über das Spielfeld war eines davon. »Aber wenn es denn unbedingt notwendig ist ...!«

»Das ist es Majestät, leider!«

»Aber für wie lange, lieber Doktor? Ich meine, wann kann ich denn wieder mit ihr rechnen?«, fragte die Königin Wurstsalat fast ein wenig weinerlich. Sie stellte sich schon jetzt auf entsetzlich öde Abende ein, an welchen sie ohne das tagtägliche Halmaspiel sich zu Tode langweilen würde.

»Eure königliche Hoheit haben wohl den Ernst der Lage immer noch nicht erfasst!«, stellte trocken der Doktor Karbinzel fest und blickte der Königin starren Blickes in die Augen.

»Ist es denn tatsächlich so schlimm?«

»Schlimmer, Majestät, schlimmer!«