Der Königin Wurstsalat Dritter Theil

Nachdem der Medikus gegangen war, begann sich die Königin Wurstsalat das erste Mal tatsächlich Sorgen um das Wohlergehen ihres Volkes zu machen. Und als ihr dies bewusst wurde, reagierte sie hierauf beinahe noch verstörter als wegen der  Angelegenheit selbst. So kannte sich die Herrscherin gar nicht! Doch immerhin hatte sie seit ihrer festlichen Krönung vor nun beinahe zwanzig Jahren immer allergrößten Wert darauf gelegt, von ihren Untertanen als gütige großherzige Regentin angesehen zu werden. Inzwischen glaubte sie fast selbst dem Bild, das der Redakteur der königlichen Postille für ihre Person zurechtgebastelt hatte. Wenn solch ein Beitrag dann noch dazu mit einer hübschen Zeichnung versehen war und Leopoldina beim Tätscheln irgendeines armseligen Gassenköters zeigte, dem sie im Palast eine letzte Heimstatt bot, da waren der Königin Wurstsalat beim Betrachten eines solchen Artikels schon einige Male die Tränen in die Augen gestiegen. Dieser Malzfinger schrieb aber auch so wunderschön; daran gab es wirklich nichts auszusetzen! Und auch der Zeichner, den man eigens aus dem fernen Florenz hat kommen lassen, verstand es mittlerweile, die Königin Wurstsalat so abzubilden, wie sie sich selbst am allerliebsten sah. Dieser Mann hatte schon nach der ersten Sitzung auf der Stelle ihre Schokoladenseite erkannt. Ein scharfes Auge besaß der allemal, dieser Nudelfresser! Immer schön die rechte Gesichtshälfte im Schlagschatten belassend, da eine hässliche Warze auf dieser Seite ihre Züge gröblich verunzierte; eine Warze, die noch dazu aussah wie ein winziger buckliger alter Mann, der ein Bündel Reisig auf dem Rücken trug. Wie oft nicht schon hatte Doktor Wackernagel der Königin angeboten, das Ding mittels eines seiner scharfen Skalpelle zu entfernen, doch fürchtete sich die Königin derart vor einer solchen Maßnahme, dass sie niemals hierauf eingegangen war.

Aber das nun tatsächlich ein Krankheitserreger ihr schönes Land befallen haben sollte, machte ihr jetzt schon ein wenig Sorge. Immerhin trug sie doch Verantwortung für ihre Untertanen, dachte die Königin Wurstsalat und straffte bei diesem Gedanken ihre Haltung. Ja, ein Ruck ging durch ihren gedrungenen Körper,  als sie sich dessen in vollem Ausmaße bewusst wurde. Nun, das Geld, was sie dem Doktor Karbinzel anvertraut hatte, würde dieser doch jedenfalls zu nutzen wissen, dachte sie zufrieden, obwohl sie äußerst ungern auf den Staatsschatz zugriff. Aber dieser junge Mann hatte sie gewissermaßen in seinen Bann gezogen. Der hatte so eine Art überzeugend zu wirken, dass man ihm kaum würde widersprechen können. Und diese Ernsthaftigkeit, mit welcher er sein Anliegen vortrug. Noch dazu würde ihr dieses Institut den Ruhm der Nachwelt einbringen, hatte Karbinzel gemeint, und dies schien ihr doch recht verlockend zu sein.

 

»Dereinst wird man auf das Institut Leopoldina herabsehen, als das erste seiner Art im Reich. Ganz auf Erkenntnis und Wissenschaftlichkeit ausgerichtet und zum Wohle der gesamten Menschheit erbaut!«, erklärte Karbinzel, als sie ihm den Beutel mit den Dukaten hinüberreichte. Diese Vorstellung gefiel der Königin wirklich äußerst gut.

Und der Doktor schien in dieser Beziehung keine Gefangenen machen zu wollen. Schon am Nachmittag des selben Tages konnte die Königin Wurstsalat von ihrem Balkon aus beobachten, wie sich dort draußen auf dem Feld, welches vormals zur benachbarten Grafschaft gehört hatte, etwas zu regen begann. Eine ganze Kolonne von Wagen machte sich auf, um dort mit den Bauarbeiten zu beginnen. Und da sie selbst recht wenig vom Fleiß der Handwerksleute ihres Landes hielt, konnte sich Leopoldina nur vorstellen, dass Karbinzel mit dem Geld, das sie ihm anvertraut hatte, nicht gerade sonderlich sparsam umging.

 

 

                                                                        ***

 

 

Pfarrer  Leppisch beobachtete die Geschehnisse in seiner direkten Nachbarschaft nun im Gegenteil zu seiner Königin mit einigem Argwohn. Was war hier nur los,  fragte sich der geistliche Herr, der sich als Ruhesitz hier draußen weit vor den Toren der Stadt angesiedelt hatte, um besagte Ruhe gerade vor einer solchen hektischen Betriebsamkeit genießen zu können. Und nun, alles dahin! Da hätte er auch in der Stadt wohnen bleiben können! Und was erbauten die Leute hier nur, so weit vor den Toren auf diesem unwegsamen Rübenacker? Dies blieb dem guten Mann fürs Erste ein vollständiges Rätsel. Und wenn er eines nicht leiden konnte, so waren es eben Rätsel oder Überraschungen.

Der Pfarrer war vor sein Gartentor getreten und noch bevor er auf den Weg sich hinausbewegt hatte, war ihm schon beinahe der rechte Fuß von einem der großen Räder einer in hohem Tempo vorbeirauschenden Kutsche plattgewalzt worden. Gerade noch konnte der geistliche Herr zurückspringen, wobei er mit dem Ellenbogen noch seinen Briefkasten herunterschlug, der dort an dem Zaun nicht gerade fachgerecht von ihm selbst angebracht worden war.

»Weg da, Alter!«, hörte er noch den Kutscher sich nach ihm umdrehend brüllen, schon als das Gefährt längst vorbei war.

’Was für ein unverschämter Gesell', dachte der Pfarrer Leppisch, der glaubte, diesen Kerl auf den Kutschbock noch nie in seinem Leben gesehen zu haben.

 

Der Pfarrer kannte jedermann aus der Gegend und dieser Rüpel gehörte auf keinen Fall zu seiner ehemaligen Gemeinde. Wahrscheinlich kam der Mann aus der angrenzenden Grafschaft, obwohl jetzt im Nachhinein betrachtet der doch eher gänzlich fremdländisch gewirkt hatte. Nur wenige hundert Meter fuhr der Wagen jetzt weiter, bis schließlich der Kutscher die Pferde auf gewaltsame Weise zügelte, was in unserem Kirchenmann größtes Mitleiden mit den Kreaturen hervorrief, die doch auch wie der Mensch von unserem gütigen Herrgott erschaffen worden waren. Einen winzigen Augenblick lang glaubte der Pfarrer im stoppelbärtigen Gesicht des Kerls die Augen rot aufleuchten zu sehen, bis der sich wieder nach vorne wandte und begann, sich um seine Zugtiere zu kümmern, die von einer Pferderasse waren, wie sie hier im Königreich seltsam fremd wirkte. Die Tiere waren von der Schulterhöhe her durchaus mit denjenigen Rössern vergleichbar, die die schweren Kutschen der Brauereien zogen, doch schienen die Köpfe dieser Pferde hier noch weitaus wuchtiger zu sein, dachte Pfarrer Leppisch gerade, als er auch schon wieder aus diesen ein wenig abschweifenden Gedanken gerissen wurde.

»Herr Pfarrer, ihr Kaffee wird langsam aber sicher doch kalt!«, hörte er die Stimme der guten Frau Murbichler an seine Ohren dringen. Sie hatte so eine enervierend hohe Stimmlage, die er gerne mit dem Quietschen von Schulkreide auf Schiefertafeln verglich. Ein Scherz, mit welchem er schon des Öfteren den Stammtisch im Grünen Ochsen erheitert hatte. Besonders der Bauer Winzlinger wunderte sich schon seit Jahren darüber, wie es der Pfarrer nur Tag für Tag mit dieser Person aushielt?

»Ich komme schon, Frau Murbichler!«, rief Leppisch ins offene Küchenfenster seines Häuschens hinein. Tatsächlich fürchtete sich der Pfarrer gar ein wenig vor seiner Besorgerin, wahrscheinlich hätte er sie aus diesem Grund schon niemals aus seinen Diensten entlassen können. Alleine das Geschrei, das sich in einem solchen Fall erheben würde, wäre wirklich unerträglich gewesen. Und das, obwohl die Murbichler immerhin schon achtzig Jahre zählen musste und man ihr sämtliche Hausarbeiten gar nicht mehr zumuten konnte. Noch dazu litt sie seit Jahren an schlimmem Reißmathismus und der Pfarrer hatte sich auch in diesem Frühjahr genötigt gefühlt, den alljährlichen Hausputz zum allergrößten Teil selbst zu erledigen.

Seit seine liebe Frau Mutter den Weg alles Irdischen gegangen war und nun vom Himmel aus gütigen Auges auf ihn hinabblickte, wie es sich der Pfarrer gerne vorstellte, wobei er alle Fehler und Mängel im Wesen der Verblichenen zur Gänze verleugnete, hatte er sich schnell nach einer Besorgerin umgesehen und war schließlich auf seine ältliche Nachbarin gestoßen, damals als er noch in der Stadt das Pfarrhaus 'Unserer lieben Frau' bewohnt hatte. Und so war die Murbichlerin, als sich Leppisch in den Ruhestand zurückzog, mit ihm zusammen in das Häuschen hier draußen gezogen. Sie hatte darauf bestanden, ihm weiterhin beizustehen, sie könne ihn unmöglich schmählich im Stiche lassen, obwohl sie die Landluft nicht sonderlich gut vertragen konnte, wie sie behauptete.

»Sagen Sie, Frau Murbichler, was wird denn dort drüben errichtet? Ich meine, bezüglich dieses Geländes ist doch immerhin das letzte Wörtchen der Gerichtsbarkeit noch gar nicht gesprochen? Ich denke, Herzog Eustace wird es nicht besonders gern sehen, wenn hier Menschen aus dem Königreich angesiedelt werden, ohne dass über die Grenzziehung zwischen unseren beiden Ländchen endgültig entschieden ist?«, meinte der Pfarrer jetzt, der ganz genau wusste, dass, wenn jemand mit Neuigkeiten aufwarten konnte, es zweifelsfrei seine Hausbesorgerin war. Obwohl sie nicht mehr ganz so gut hörte, bekam sie doch alles mit, was auf der Straße so geredet wurde. Pfarrer Leppisch glaubte insgeheim, dass die Alte nur so tat, als sei sie halbtaub. Nur wenn sie mit irgendetwas nicht belästigt werden wollte, reagierte sie auf die Anrede in keiner Weise. Wenn aber die Winzlinger des Mittags vorbeikam und sich in der kleinen Küche breitmachte, so dass für den Hausherrn selbst nur noch ein kleines Eckchen am Tisch verblieb, da konnte er diese beiden Krähen miteinander tuscheln hören, ohne selbst jemals ein einziges Wort zu verstehen.

»Man munkelt, hier wird ein Hospital errichtet, Herr Pfarrer«, erklärte Frau Murbichler mit vollem Mund. Leppisch konnte viel zu deutlich das zuvor in den Kaffee getunkte Butterhörnchen erkennen.

»Ein Hospital, so, so!«

»Oder vielmehr ein Inschtituut, hat wenigstens die alte Winzlinger behauptet, immerhin grenzen die Felder ja an ihre eigenen!«, schmatzte die Besorgerin, und dem Pfarrer war wieder einmal ein Rätsel, warum es immer die alte Winzlinger hieß, immerhin war die Frau doch mindestens dreißig Jahre jünger als Frau Murbichler.

»Ein Institut, also?«

»Was immer das heißen soll?«

»Nun ein Institut, liebe Frau, ist eine Einrichtung, in welcher Wissenschaft betrieben wird!«, erklärte jetzt Pfarrer Leppisch und bereitete sich innerlich schon einmal auf den Wortschwall vor, der bei der Erwähnung des Wortes 'Wissenschaft' jetzt ohne Zweifel kommen musste.

»Wissenschaft, also Herr Pfarrer, wenn ich das schon höre!«, kam es auch gleich vonseiten der alten Frau zurück. »Diese gottlosen Alchemisten am Ende gar, die nicht aufhören wollen, die Schöpfung unseres Herrn in Abrede zu stellen. Aber das ist ja entsetzlich! Manchmal wünschte ich mir die heilige Inquisition wieder herbei! Die würde mit diesem Hokuspokus aber mal in Nullkommanix aufräumen!«

»Aber, Frau Murbichler, jetzt machen sie aber mal halblang!« Doch die Worte des Pfarrers gingen in der Schimpftirade wie so oft völlig unter.

»All dies grausige Hexenwerk! Man munkelt, manche dieser Gesellen hätten es fertiggebracht, schon Tote aufzuschneiden, nur um ihr Inneres zu begutachten und zu vermessen. Welch eine grauenhafte Vorstellung, so ausgeschlachtet zu werden! Und wozu? Nur um zu beweisen, dass eben die Seele nicht existiere, dass sie nur eine Erfindung der heiligen Kirche selbst sei, und der Mensch schließlich nur aus Knochen Fett und Körpersäure bestünde! Wie, Herr Pfarrer kann es möglich sein, dass unsere hochverehrte Königin solcherlei ketzerische Umtriebe duldet? Und gar noch diesen ungläubigen Teufeln den Boden hierzu bereitet?!«

»Die Sache hat also durchaus die Genehmigung der obersten Stellen?«

»Das ist es ja gerade, was mich so aufregt. Es wird gesagt, die Königin selbst hätte die Erbauung angeordnet. Deshalb gerade kann ich kaum glauben, dass es sich bei diesem Inschtituut um etwas handelt, in welchem diese Wissenschaft betrieben werden soll!«

»Aber sagten Sie nicht gerade ebenso etwas von einem Hospital?«

»Hospital und Inschtituut, hat die Winzlinger gemeint! Sie hat mit dem Bauherrn gesprochen, einem Doktor Karpinkel, oder so ähnlich. Und der hätte ihr erklärt, dass dort Kranke untersucht werden sollen!«

»Na, da sehen Sie mal, Frau Murbichler, dann kann es wohl so schlimm ja nicht sein!«

’Institut, Hospital, was auch immer', dachte Leppisch. ’Es wird wohl schon seine Richtigkeit haben damit.‘ Er würde den Gatten der Frau Winzlinger abends am Stammtisch einmal aushorchen. Vielleicht wusste der ja mehr. Er selbst hatte im Grunde nichts gegen die Wissenschaft als solches einzuwenden. Im Gegensatz zu den allermeisten seiner schwarzberockten Kollegenschar war Leppisch der Ansicht, dass es keineswegs dem Willen des Herrn zuwiderliefe, wenn man den Geheimnissen der Schöpfung auf die Spur kommen wollte. Wie anders sollte ein Fortschritt der Menschheit möglich sein, als gerade zu begreifen, was hinter allem Materiellen stecken mochte? Wie waren Knochen beschaffen, wie verhielt es sich mit den Körpersäften, wie Blut, gelber und schwarzer Galle, und Weißschleim? Und dann die Gestirne dort droben am Himmelszelt. Galileo Galilei, Kopernikus, Kepler allesamt hatten diese forschenden Geister mit Anfeindungen der obersten Kirchenbehörden zu kämpfen gehabt. Glücklicherweise war es heute nicht mehr so, dass sogleich die Heilige Inquisition einen auf die Streckbank legen konnte, wie ehedem, wenn man allein durch die Beobachtung der Himmelsgestirne zu ganz neuen Betrachtungsweisen unserer Welt gelangte. Für den Pfarrer bestand in keiner Weise ein Widerspruch zu den in der Heiligen Schrift niedergelegten Geschichten. Ganz im Gegenteil empfand Leppisch es eher als eine Bereicherung, wenn sich neue Erkenntnisse mehr und mehr durchsetzten. So könne dann auch die Bibel in einem völlig neuen Licht erscheinen.

Hier stand er allerdings recht alleine da. Die meisten kleinen Dorfpfarrer wie auch die obersten Kleriker, standen dem allen eher skeptisch bis ablehnend gegenüber, und jedesmal dauerte es mehrere hundert Jahre bis man etwas als Tatsache anerkannte, was bei genauerer Betrachtung selbst dem dümmsten Bauern auf dem Felde in der Zwischenzeit ganz und gar einleuchtete. Der Einfluss des Mondes auf die Gezeiten zum Beispiel, oder dass im Erdinneren riesige Ströme glühenden Gesteins auf und abschwappten. Gut, letzteres war nun vielleicht dem Landmann nicht bewusst, aber der Pfarrer beschäftigte sich gerne mit solchen Theorien, und woher sonst sollte denn die Vorstellung von einer Hölle wohl kommen? Hat nicht gerade eine solche Erkenntnis ganz vorzüglich genau dies bewiesen?

 

 

4

 

Der Bauer Winzlinger hatte allerdings an diesem Abend nichts mehr zu dem Thema beizutragen gehabt, jedenfalls nicht mehr als das, was die Murbichlerin durch seine Gattin in Erfahrung gebracht hatte. Dennoch war es ein durchaus lustiger Abend gewesen, obwohl jetzt auf dem Heimweg der gute Pfarrer doch ein klein wenig zum Schwanken neigte. Vielleicht hätte er das letzte Viertel Wein weglasssen sollen, dachte er gerade, als er schon wieder über einen Stein stolperte. Zum Glück waren die Straßen wenigstens nicht mehr schlammig, wie noch vor zwei Wochen, als das Schmelzwasser aus den Bergen den schmalen Fluss über die Ufer hatte treten lassen, so wie eigentlich jedes Jahr. Besonders da der Pfarrer, auch wenn er sich im Ruhestand befand, immer noch die beinahe bis zum Boden reichende schwarze Soutane trug, deren Saum dann immer schlammbespritzt war, was ihm wiederum den bösen Tadel der Murbichler einbrachte, obwohl die sich doch gar nicht mehr mit dem Besorgen der Wäsche beschäftigte, sondern diese Arbeit, wie sie sagte, ausgelagert hatte. Ein vierzehnjähriges Mädchen aus der Nachbarschaft hat diese Aufgabe gegen ein geringes Entgelt gerne übernommen.

Der beinahe volle Mond trat gerade hinter den dunklen Wolken hervor und Pfarrer Leppisch konnte nun wenigstens wieder etwas von seinen Füßen erahnen, die ihn tapfer der Heimstatt entgegentrugen. Er blickte nach rechts, dorthin, wo der umkämpfte Rübenacker im Schatten der Alleebäume lag, und blieb dann abrupt stehen.

Was war denn das für ein Ungetüm, das dort vorne aus dem Feld erwachsen war? Zuerst hätte der Pfarrer den Schatten beinahe für so etwas wie einen riesigen Drachen gehalten, doch wahrscheinlich kam er nur auf diesen Gedanken, weil er erst kürzlich in einer Zeitschrift gelesen hatte, dass man im weit entfernt gelegenen Engelland riesige Knochen ausgegraben haben wollte, die man zuerst für diejenigen eines Elefanten hielt, welcher mit Hannibal über die Alpen gekommen war. Dann aber hat man feststellen müssen, dass sie zu solch einem Tier nicht passen wollten, ja dass sie sogar von ihrer Größe her weitaus mächtiger beschaffen waren als die Knochen eines solchen afrikanischen Rüsseltiers. Einige Forscher behaupteten gar, man hätte es hier mit den Überresten eines urzeitlichen Drachen zu tun.

Pfarrer Leppisch konnte sich durchaus mit dem Umstand anfreunden, dass dereinst tatsächlich solche riesigen Viecher den Planeten bevölkert haben mochten. Vielleicht mussten ja sogar Adam und Eva mit solcherart Monstrositäten kämpfen, nachdem sie das Paradies hatten verlassen müssen. Wer konnte das schon sagen?

Da jedoch erkannte der Pfarrer, dass es sich nun keineswegs um ein Ungeheuer handelte, welches dort vorne auf dem Acker stand, sondern um das Gerüst eines Gebäudes, auf welches der Mond nun ein beinahe unheimliches Licht warf, so dass es ein wenig wirkte wie ein solches Drachenwesen, welches sich noch dazu zu bewegen schien. Doch handelte es sich bei diesem Phänomen freilich nur um so etwas wie eine optische Täuschung, da das Licht des Mondes immer wieder durch den Wolkenflug flackerte und dadurch sich Licht und Schatten in einem fort abwechselten.

»Eieieiei«, murmelte der Pfarrer vor sich hin. »Ich muss doch ein wenig besoffener sein als ich gedacht hab!«

Aber wie hatten die nur so schnell dieses riesige Gerüst hochziehen können? Das war ja beinahe noch unglaublicher als in dem Ding einen feuerspeienden Drachen sehen zu wollen? Gerade heute morgen erst hat man doch mit den Arbeiten begonnen.

»Ach wahrscheinlich wirkt es einfach nur jetzt im Licht der Nacht so riesig«, beruhigte sich Leppisch nun ein wenig selbst und begann das fröhliche Liedchen zu pfeifen, welches kurz zuvor im Ochsen der alte Wursinke auf seiner Fidel zum Besten gegeben hatte. Es gab doch auch einen Text dazu, überlegte er jetzt irgendetwas mit 'Liebchen fein, oh lass mich doch ein'. oder so ähnlich. Schon ein wenig anzüglich das Ganze, dachte er nun grinsend. ’Was für ein Glück, dass ich nicht mehr Sonntags von der Kanzel herunter solche Sündhaftigkeit anprangern muss!‘

Ganz im Gegenteil unterhielt sich der Pfarrer Leppisch heutzutage schon gerne mal mit dem einst so verpönten Kartenspiel im Grünen Ochsen. Jetzt mit siebzig konnte er sich das sehr wohl herausnehmen, befand er, und diese Sache hatte ihm ganz aufrichtig angefangen, einen Höllenspaß zu bereiten, um es einmal etwas salopp auszudrücken. Nur gut, dass die Murbichler davon keine Ahnung hatte. Er würde doch wohl einiges an ihrer Achtung verlieren, wenn sie hierüber Bescheid wüsste.

Morgen, ja gleich am nächsten Morgen würde er hinübergehen und sich dies Bauwerk einmal zeigen lassen. Immerhin war er doch einer der Honoratioren der winzigen Gemeinde, die man im Eigentlichen allerhöchstens als einen Weiler bezeichnen konnte. Fünfundfünfzig Einwohner immerhin, allerdings über eine recht weite Fläche verteilt. Der nächste Nachbar, aus dessen Hof die kleine Wäscherin stammte, war beinahe eine viertel Meile entfernt, und zum Ochsen war es gerade noch einmal so weit. Zum Glück jedoch fühlte sich der Pfarrer für sein Alter noch einigermaßen rüstig, ganz im Gegenteil zur Murbichlerin, die mittlerweile dazu übergegangen war, beinahe alles, was sie zur Führung des ehrwürdigen Haushalts benötigte, anliefern zu lassen. Nun gut, ihr konnte man nun auch wirklich nicht mehr zumuten, solch eine weite Strecke bis in den eigentlichen Ortskern, der im Grunde lediglich aus dem Ochsen einem Kohlehändler und einem Viktualienhandel bestand, zu Fuß zu bewältigen. Doch jetzt, nachdem er endlich sein Haus betreten hatte, fühlte sich der Herr Pfarrer tatsächlich todmüde und fiel schließlich in sein Bett, schaffte es aber gerade noch, wenigstens die Schuhe auszuziehen.

 

 

»Frühstück ist fertig, Hochwürden!« Die Stimme der Murbichlerin drang mit Nadelschärfe ins pochende Hirn Pfarrer Leppischs.  Sein Kopf schmerzte auf eine Weise wie selten an solchen Morgen danach, wenn er im Ochsen einen über den Durst getrunken hatte. Aber dieser Umstand konnte nun nicht an den wenigen Schoppen Wein allein liegen, nein, hier spielte wohl der hausgebrannte Fusel des Ochsenswirts die Hauptrolle. Noch dazu brannte der Mann das Zeug auch noch ohne eine hierfür eigentlich benötigte staatliche Berechtigung. Das war ihm angeblich zu viel bürokratischer Aufwand. Dabei war sich der Pfarrer sicher, dass der Wirt lediglich sich die drei Gulden sparen wollte, die der Erlaubnisschein im Jahr ihn kosten würde.

Jetzt fiel Leppisch erst auf, dass er in der Soutane eingeschlafen war und sein Hut hatte es ebenfalls nicht an den für dieses Kleidungsstück vorgesehenen Platz draußen oberhalb der Garderobe geschafft, sondern war einem der Bettpfosten achtlos übergestülpt worden. Und das auch noch obwohl der Pfarrer nur allzu genau wusste, wie das Hütchen sich durch eine solche Misshandlung damit rächen würde, dass es den halben Tag lang eine kleine Beule vom Holz des Pfostens zeigte. Man konnte so schon von weitem dem Herrn Pfarrer ansehen, wo er in der letzten Nacht gewesen war.

»Hochwürden, hast du eigentlich schon einmal aus dem Fenster gesehen?!«, schnatterte die Murbichler.

Er hasste es, wenn sie ihn mit diesem Ehrentitel ansprach, noch dazu das Du, das daraufhin unwillkürlich folgen musste. Sie bemerkte niemals, dass eine solche Art der Anrede eigentlich unvereinbar miteinander war. Sonst nannte sie ihren Dienstherren ja auch nur Herr Pfarrer und Sie.

»Aus dem Fenster, nein!«, murmelte Leppisch, blickte hinüber durch die Scheibe, durch welche das Sonnenlicht des Morgens ihn sogleich unerträglich stechend in die müden Augen fuhr.

»Sieh dir das doch wenigstens einmal an, Hochwürden!«

»Nun tun Sie mir den Gefallen und bleiben einfach einmal eine Weile ganz genau so stehen!«, raunte der Pfarrer. Die Murbichler verdeckte mit ihrem breiten Rücken aufs Wunderbarste gerade das Fenster, so dass sich ein wohltuender Schatten auf den Platz des Pfarrers gesenkt hatte.

»Wieso das denn?«

»Na, da lassen Sie mich doch erst einmal einen Bissen zu mir nehmen, Frau! Es ist immerhin noch früh am Morgen!«

»Es ist schon zehn, Herr Pfarrer, falls Sie noch keinen Blick auf die Uhr geworfen haben!«, kam es in anklagendem Ton zurück.

»Mein Gott, ich bin immerhin im Ruhestand und muss nicht schon um sechs Uhr raus wie ehedem! Soviel Freiheit wird man sich wohl noch gönnen dürfen!«

»Ach, was soll ich denn da noch sagen? Morgenstund ist eben aller Laster Anfang!«

 

Ein Gespräch, das die beiden nun schon so oft geführt hatten, dass es dem Pfarrer gehörig auf die Nerven ging. Da er den weiteren Verlauf nur allzu gut kannte, stand er schließlich seufzend auf und linste vorsichtig über den Rücken der Murbichlerin durch das Küchenfenster, das direkt hinaus auf den brachliegenden Rübenacker blickte.

Wenn sich nicht das störrische graue Haupthaar des Pfarrers jetzt schon in einer Art vollendeter Unordnung befunden hätte, so würde es sich bei dem Anblick, der sich Leppisch bot, sichtbar gesträubt haben. Dort draußen, vielleicht acht, neunhundert Schritt entfernt, ragte ein dreistöckiger Bau auf. Mitten auf dem Felde, auf welchem am Vortag nicht das Kleinste davon zu sehen gewesen war. Jetzt erinnerte sich der Pfarrer endlich an seinen nächtlichen Nachhauseweg. Aber da war ihm erschienen, als ragte dort draußen lediglich ein vorläufiges Gerüst auf. Und keineswegs war zu erwarten gewesen, dass ein Gebäude, das dort wohl geplant war, zu errichten, im Ablauf eines halben Tages fertiggestellt hätte werden können.

»Aber, das ist ja ....!«, rief der Pfarrer aus und konnte den Blick nicht von dem dreistöckigen Bauwerk abwenden. Ja, es schien ihm, als seien sogar die Fenstergläser allesamt eingesetzt worden, noch dazu hatte man die Balken des Fachwerks schon mit der üblichen ochsenblutroten Farbe bestrichen, wie auch die Wände weiß gekalkt. Das konnte nun keineswegs mit rechten Dingen zugehen!

»Ganz schön fleißig die Burschen, was Herr Pfarrer? Das müssen Sie aber jetzt zugeben!«, meinte Frau Murbichler triumphierend. Es klang nicht nur so, als hätte sie dort draußen ein wenig selbst mit Hand angelegt, sondern als hätte sie jeden einzelnen Dachbalken persönlich an seinen Ort verbracht.

»Aber das kann ja gar nicht möglich sein!«

»Was kann nicht möglich sein, Herr Pfarrer?«, fragte die Besorgerin jetzt beinahe ärgerlich zurück, als ob ihr Herr nichts anders zu tun hätte, als immer irgendwo das Haar in der Suppe zu suchen, damit er sich über irgendetwas grundlos würde mokieren können. »Ich sag' doch, das sind ganz fleißige Leutchen dort draußen. Ich hab ihnen sogar eine Kanne Kaffee hinausgebracht am Morgen, weil die Ärmsten doch die ganze Nacht durchgearbeitet haben müssen. Und noch dazu so unglaublich rücksichtsvoll leise! Oder hast du etwa irgendetwas gehört, Hochwürden?«

»Gehört ...?«, stammelte Leppisch, der mit den Worten der Murbichler momentan gar nichts anzufangen wusste.

»Die sind alle sehr nett, diese Ausländer. Hätte ich gar nicht gedacht! Ich meine, sie sehen allesamt schon ein wenig wild aus, aber vielleicht ist es ja Mode da, wo sie herkommen!«, quasselte die Alte weiter. Der Pfarrer verstand immer noch kein einziges Wort und starrte unentwegt ungläubig aus dem Fenster hinaus auf das enorme dreistöckige Bauwerk. Ganz unbewusst hatte er angefangen, die Fenster dort drüben zu zählen, und kam auf die Anzahl von dreiunddreißig, ohne dass er nun mit dieser Erkenntnis irgendetwas hätte anfangen können.

»Nett! Wild! Dreiunddreißig!«, meinte er nur, was wiederum Frau Murbichler dazu brachte, zu vermuten,  es stimme irgendetwas nicht ganz mit dem Hausherrn.

»Ist Dir vielleicht nicht ganz wohl, Hochwürden. Vielleicht war der Speck auf dem Rührei ein wenig zuviel?«, begann sie zu fragen. Ein Blick auf den Tisch jedoch überzeugte sie von der Tatsache, dass der Pfarrer noch nicht einen einzigen Bissen davon verzehrt hatte. »Sie sehen aber wirklich nicht wohl aus!«, stellte sie gleich darauf fest. »Vielleicht sollten sie sich ein wenig auf die Chaiselongue legen? Vielleicht mit einem feuchten Tuch unterm Nacken!?« Die Sache mit dem feuchten Lappen brachte die Murbichler im Übrigen bei beinahe jeder Gelegenheit an. Besagte Methode schien für sie so eine Art Allheilmittel zu sein.

Doch sah Pfarrer Leppisch in der Tat hundserbärmlich aus, und genauso fühlte er sich auch. Sein Gesicht erschien im blendenden Licht des Morgens nun von einer leichenhaften Blässe, und so kamen die tiefen Ringe unter seinen Augen erst so recht zur Geltung. Er begann nun langsam aber sicher an seinem Verstand zu zweifeln.

»Sagen Sie, Frau Murbichler. Diese Bauarbeiten ...«

»Ja, Hochwürden?«

»Diese Bauarbeiten haben doch gestern früh erst begonnen, oder ...?«

»Ja, freilich! Ist es nicht ganz erstaunlich, wie man mit etwas Fleiß und mit diesem Krangestell, wie man es wohl nennt, und mit den richtigen Leuten in so kurzer Zeit schon jetzt beinahe fertiggeworden ist?«

»Das ist es ja gerade!«

»Wie meinen?«

»Na, das ist doch ein Ding der Unmöglichkeit, Frau Murbichler, das müssen doch selbst Sie einsehen!?«

»Haben Sie sich die Kerle einmal angesehen, Herr Pfarrer? Da sind aber wirklich ein paar ansehnliche Mannsbilder dabei!«

 

 

 

Am gleichen Morgen blickte auch die Königin Wurstsalat, wenige Meilen vom Haus des Pfarrers Leppisch entfernt, herab von ihrem Balkon und glaubte dort draußen tatsächlich schon etwas zu erkennen. Sogleich ließ sie sich ihr Opernglas bringen, schraubte eine geraume Weile nun daran herum und rief dann aus: »Das ist ja ganz und gar wunderbar, da steht es ja schon, mein Institut. Na, wenn das keine gute Geldanlage war, weiß ich auch nicht!«

 

Schon bald darauf sprach der Doktor Karbinzel bei der Königin Wurstsalat vor, um auch gleich wieder mit in äußerstem Maße besorgniserregenden Erkenntnissen aufzuwarten. Er hätte unter anderem die Freigräfin Zurlemann und ihre Tochter untersucht und beide, die hochherrschaftliche Dame, wie auch ihr Spross, schienen ihm am Virrus zu leiden. Dazu noch die Gouvernante der Kleinen und ihr Kutscher, nebst Gemahlin.

»Wir werden wohl nicht umhin kommen, die ganze Familie samt Hausstand für eine geraume Weile in Quarantäne zu belassen, Hoheit!«, erklärte der Medikus und starrte bei diesen Worten sinnend vor sich hin, was die Königin Wurstsalat annehmen ließ, die Sache sei tatsächlich wesentlich ernster noch, als sie bislang angenommen hatte.

»Karan ...was?«, fragte nun die Königin und seltsamerweise fühlte sie sich vom Ausdruck in der Stimme des Doktors derart eingeschüchtert, wie sie es selbst ihrem eigenen Vater gegenüber, der ein recht herrisches Wesen an den Tag legen konnte, niemals gewesen war.

»Quarantäne«, meinte jetzt der Medikus geduldig. »Das bedeutet, alle Personen der freigräflichen Familie sollten auf ihrem Gut verbleiben, damit nicht noch mehr Menschen mit dem Virrus angesteckt werden!«

»Ach so! Na denn! Dumm nur, dass die Freigräfin die einzige Person im Schlosse ist, mit der man eine vernünftige Partie Halma spielen kann!«

Die Königin Wurstsalat hatte eine Vorliebe für dieses recht simple Brettspiel. Sie erfreute sich im Grunde nur an sehr wenigen Dingen wirklich, und das Bewegen der bunten Figürchen über das Spielfeld war eines davon. »Aber wenn es denn unbedingt notwendig ist ...!«

»Das ist es Majestät, leider!«

»Aber für wie lange, lieber Doktor? Ich meine, wann kann ich denn wieder mit ihr rechnen?«, fragte die Königin Wurstsalat fast ein wenig weinerlich. Sie stellte sich schon jetzt auf entsetzlich öde Abende ein, an welchen sie ohne das tagtägliche Halmaspiel sich zu Tode langweilen würde.

»Eure königliche Hoheit haben wohl den Ernst der Lage immer noch nicht erfasst!«, stellte trocken der Doktor Karbinzel fest und blickte der Königin starren Blickes in die Augen.

»Ist es denn tatsächlich so schlimm?«

»Schlimmer, Majestät, schlimmer!«

Der Königin Wurstsalat zweiter Teil

 

Endlich ist es mir gelungen noch ein paar wenige Seiten des Märchens zu entziffern. Ich muss schon sagen, dieser Jacob Schlimm hatte eine ganz schöne Saukralle

 

 2 

 

Nun ist es an der Zeit für den Schreiber dieser Zeilen einzugestehen, dass Wurstsalat keineswegs der tatsächliche Name der Königin war. Die allermeisten der geneigten Leserschaft haben dies wohl längst erahnen können, doch gedachte ich, mich ganz nach der Sprache des Volkes zu richten, und dort, in der breiten Bevölkerung, vom braven Handwerksmann bis zu den hohen Mitgliedern der Kaufmannsgilde wurde die Königin eben genau so genannt. In Wahrheit lautete der Name der erlauchtesten Hoheit Leopoldina, Pastillenzia, Rigorosia zu Hohenstolpern, sie stammte also aus derjenigen Familie, aus welcher seit Jahr und Tag auch die höchste Macht im Lande bestimmt wurde. Ja, der Kaiser war gar ihr nicht einmal ganz so ferner Vetter.

Eine Begebenheit in der frühesten Kindheit der Königin war daran schuld, dass dieser Schandname ihr auch zu dieser Zeit immer noch anhaftete wie Pech, obwohl sie selbst sich dessen in keiner Weise gewahr war. Selbstverständlich sprach man nur hinter ihrem Rücken diesen Namen aus und niemals war dieser Umstand bis zur Königin vorgedrungen. Allerdings hörte sie auch auf dem rechten Ohr nicht mehr ganz so gut, was vielleicht zu dieser Unkenntnis beigetragen haben mochte. 

Ihr eigener Herr Papa war schuld daran, dass man der Königin nun diesen seltsamen Namen verliehen hatte. Als nämlich die ersten Worte aus den Lippen der kleinen Prinzessin Leopoldina im zarten Alter von etwa fünf Jahren unversehens hervorschwappten, sie war in dieser Beziehung all ihren Altersgenossen etwas hinterher, da vermeinte der König nun nicht etwa das Wort Papa zu erkennen; auch als Mama war das Genuschel der Kleinen nicht zu deuten gewesen. Nein, der dicke König glaubte ganz genau das Wort Wurstsalat verstanden zu haben und konnte nicht anders als dies laut herauszuprusten.

"Wurstsalat, sie hat Wurstsalat gesagt!", brüllte der riesige dicke Mensch mit dem enormen Bauchumfang und hielt sich dabei den Wanst, der nicht aufhören wollte auf und abzuhüpfen, so dass er schon ein Ziehen in der Gegend verspürte, in welcher die Ärzte auch beim allerhöchsten Adel das Herz vermuteten. "Wurstsalat, Luise, ist das nicht drollig!", rief er gleich darauf seiner Gemahlin zu, die ihn daraufhin mit einem tadelnden Blick bedachte, den der grobe Klotz allerdings nicht zu bemerken schien.

Dummerweise waren bei dieser Angelegenheit nun etliche Personen aus der Dienstbotenschaft anwesend gewesen, die den Vorfall unten in der Schlossküche am folgenden Abend selbstverständlich in aller Ausführlichkeit den anderen Bediensteten mitteilten. Und freilich wurde auf diese Weise das erste Wort, welches die kleine, pummelige Prinzessin des Landes gesprochen hatte, nun hinaus in die Welt getragen. Bei der Klatschhaftigkeit der niederen Bevölkerungskreise war es praktisch unvermeidlich, dass die Kunde von der Prinzessin Wurstsalat durchs gesamte Königreich getragen wurde und sogar schließlich dessen Grenzen auch noch überwand. Selbst der Kaiser bezeichnete insgeheim seine ungeliebte Base als die Königin Wurstsalat und das nicht nur im Geheimen für sich selbst, keineswegs. Wenn wieder einmal Leopoldina einen Krieg mit einem ihrer Nachbarn wegen irgendeiner Geringfügigkeit vom Zaun brach, da stöhnte der Kaiser meist auf und beriet sich mit seinen Ministern, wie man wohl seine Verwandte, die Königin Wurstsalat ein klein wenig in ihrer Kriegslüsternheit bändigen könne.

Bleiben wir also bei dieser Titulierung der Person der Königin, wenn schon alle Welt sie so bezeichnete, wer bin ich, der Erzähler dieser Geschichte aus längst vergangenen Tagen, mich hiervon auszunehmen?

 

Die Königin Wurstsalat blickte vom Balkon ihres Schlafgemachs hinunter über die breite Schlossmauer aus Granitstein in den Innenhof des Kindergartens und rieb sich die Hände.

"Das ist ja wunderbar, ganz wunderbar, Doktor Karbinzel. Diese himmlische Ruhe, dieser Frieden! Wie haben sie dies nur zuwegegebracht?", seufzte die Königin beglückt.

"Eine reine Vorsichtsmaßnahme, Euer Hoheit. Ein Tüchlein um den Mund, in welchen man zuvor einen kleinen Ball gesteckt hat und schon ist der Gefahr der Ansteckung untereinander ein wenig der Riegel vorgeschoben!", meinte der Doktor Karbinzel, der mit hinter dem äußerst geraden Rücken verschränkten Armen neben der Königin stand und ebenfalls hinab in den Hof blickte. "Aber ich denke nicht, dass dies ausreichen wird, bei der Gefahr, die von diesem Virrus ausgeht, Hoheit!", fügte er jetzt noch hinzu und seine zusammengewachsenen Brauen begannen sich besorgt ineinanderzuschieben.

Den jungen Medikus konnte man sehr wohl eine imposante Erscheinung nennen. Obwohl er noch keineswegs zur Fülle neigte, konnte er doch ein breites, kräftiges Kreuz sein eigen nennen, das durchaus in der Lage zu sein schien, auch eine größere Last zu tragen. Die Züge unter seinem etwas krauslockigen, dunkelblonden Haupthaar strahlten eine ungeheure Anziehungskraft aus, ohne dass man hätte sagen können, woran dies genau liegen mochte. Die Nase, der Mund, Kinn und Augenpartie, alles war wohlgeformt und von beinahe vollendeter Symmetrie. Man hätte eigentlich den jungen Mann als hübsch bezeichnen müssen, wenn, ... ja wenn nicht alles in seinem Antlitz nicht recht zueinander hätte passen wollen. Doch ist auch dies wohl kaum die richtige Beschreibung. Sooft man dem Doktor Karbinzel ins Gesicht blickte, so sah man etwas anderes, irgendeine Kleinigkeit, die einem ins Auge fiel, und dennoch hätte niemand den Mann zu beschreiben gewusst. Aber ist es nicht im Grunde oft so, dass man gerade bei jemandem, der tatsächlich als eine besonders anmutige Erscheinung gelten muss, eben deshalb gerade gar nicht sagen kann, was das Besondere an demjenigen im Eigentlichen ausmacht? Nein? Nicht? Na dann eben nicht!

 

"Sie sind also krank, die armen Kleinen?", fragte jetzt die Königin Wurstsalat, bemüht ihrer Stimme den Anstrich ihres erlauchtesten Mitgefühls zu geben.

"Nun, Majestät, sagen wir es einmal so. Sie tragen die Krankheit in sich!", erklärte Karbinzel mit ruhiger, sanfter Stimme. Er sprach immer in einem Tonfall, der bei beinahe allen Leuten, welchen er begegnete, sogleich das Gefühl erzeugte, diesem Mann könne man alles anvertrauen, sogar die schlimmsten Sünden, die man noch nicht einmal dem Pfarrer im düstersten Beichtstuhl gegenüber hätte erwähnen mögen.

"Sie tragen die Krankheit in sich, sind aber selbst nicht krank!? Lieber Doktor, ich habe nicht die allergeringste Ahnung, was sie mir damit sagen wollen!" Jeden anderen als den Doktor Karbinzel hätte die Königin Wurstsalat angeherrscht, wenn er mit einem solchen, für ihre Ohren verworrenen Gerede gekommen wäre. Seltsamerweise zeigte sie dem jungen Mann gegenüber eine Nachsicht, die sie an sich noch niemals kennengelernt hatte.

"Nun, Hoheit, sie tragen den Virrus in sich, ich habe bei allen das Blut untersucht, und ..."

"Um Gottes Willen, Doktor. Sie haben die Kinder doch nicht aufgeschnitten, nur um ihr Blut zu begutachten?" Die Vorstellung hieran jagte einen wohligen Schauer über den Rücken der Königin, was jedermann wohl für Anteilnahme gehalten hätte.

"Wo denkt ihr hin Hoheit? Ich bin Arzt und kein Schlächter", meinte Karbinzel mit amüsiert gespielter Entrüstung. "Nein, man nimmt ein Jaukerl, führt eine hauchdünne Nadel in die Vene des Kindes und schon haben wir wenige Tropfen des geheimnisvollen Lebenssaftes gewonnen, der dann in meinem Labor untersucht werden kann!"

"Mit diesem Mikrofant ..?", fragte jetzt interessiert die Königin, die glaubte, sich an ein solches Wort zu erinnern.

"Mikroskop, Hoheit! Man nennt den Apparat Mikroskop!", wurde sie sogleich von Karbinzel verbessert. Normalerweise würde sie sich solch eine Unverschämtheit von niemandem gefallen lassen, das heißt, sie würde dann einfach darauf drängen, dem Ding nun eben den Namen Mikrofant zu geben, immerhin war sie die Königin! Aber diesem jungen Mann konnte sie einfach nicht böse sein. "Genau, Hoheit, und bei dieser Untersuchung des Blutes der Kinderlein musste ich zu meinem Entsetzen feststellen, dass zumindest einige von ihnen besagten Virrus in sich tragen!"

"Ja, Doktor, das ist besorgniserregend, aber jetzt da die Kinder geknebelt sind ..."

"Man nennt es Mundschutz, Euer Majestät!"

"Nun gut, jetzt da sie sozusagen maulgeschützt sind, können sie wohl auch nicht mehr krank werden? Das ist doch sehr beruhigend!", meinte die Königin und hoffte, dass dieser Zustand anhalten würde, wenigstens bis zum Sommer, den sie üblicherweise auf ihrem Landsitz weit im Süden des Ländchens zuzubringen gedachte, fernab von jeglichem Kindergeplärre.

"So einfach verhält sich die Sache nicht, leider!", erklärte der Doktor und erneut schienen sich die feinen blonden Härchen seiner Brauen über der Nasenmitte miteinander verhaken zu wollen. Durch seine strahlend blauen Augen zogen leichte Wolkenfelder, glaubte die Königin zu bemerken, als sie den gelehrten jungen Mann nun anblickte. "Die Kinder könnten andere Kinder anstecken, und nicht nur dies. Für Erwachsene stellt das Virrus eine weitaus größere Gefahr dar. Wie ihr seht, leiden die betroffenen Kleinen beinahe in keiner Weise darunter, doch sollten sie ihre Eltern damit anstecken, so könnte dies überaus schlimme Folgen zeitigen. Von den Großeltern erst gar nicht zu sprechen!"

"Aber Doktor, ich dachte ein wenig Schnupfen ..."

"Ja, wenn es sich lediglich um ein wenig Schnupfen handelte, Hoheit. Dieses bösartige Ding befällt gerade bei Personen von einem höheren Alter die verschiedensten Organe des Körperinneren. Organe, von welchen, Ihr, Eure Hoheit möglicherweise noch niemals etwas gehört habt, und deren Funktionsweise nur als unappetitlich zu bezeichnen wäre!"

"Ach", stammelte die Königin Wurstsalat, die sich fragte, ob Karbinzel tatsächlich glaubte, eine Königin müsse nicht auch einmal zum Abort. Sogar ihr Vetter der jetzige Kaiser des Reiches suchte dieses bewusste Örtchen immerhin auf und vollführte dortens gänzlich unaussprechliche Dinge, wie die Prinzessin von einstmals sich erinnerte einmal beobachtet zu haben. 'Aber was für ein Unsinn', dachte sie gleich darauf, immerhin war der Mann Medikus. Und noch dazu ein ganz und gar vorzüglicher, trotz seiner jungen Jahre. "Gut gut, lieber Doktor. Aber wie ist es zu verhindern, dass meinen Untertanen solch ein grässliches Schicksal droht?"

"Wir werden wohl nicht umhin kommen, die Kinder dort drunten erst einmal in ihrem Gehege zu belassen, wie auch die Kindergärtnerinnen fürs Erste nicht des abends zu ihren Familien zurückkehren dürfen!", erklärte Karbinzel jetzt seufzend. 

'Ach, was für ein mitleidendes Herz er doch besitzt, der Herr Doktor!', dachte die Königin Wurstsalat bei sich. Das würde allerdings ein hübsches Geschrei geben vonseiten ihrer Hofdamen, wenn sie ihre verhätschelten Bälger nicht mehr zu sehen bekämen. 

"Glaubt Ihr wirklich, das ist unbedingt notwendig, Doktor?", fragte sie daher, sie glaubte jetzt schon die anklagenden Ausrufe der Freifrau von Arnheim in ihren Ohren klingeln zu hören. Die vergötterte ja geradezu ihren Sprössling, diesen kleinen Peter oder Paul, oder wie immer er denn heißen mochte?

"Ja, so leid es mir auch tut, Hoheit!"

"Na denn!"

"Wir sollten dennoch nicht verabsäumen, auch den Hofstaat Eurer Majestät einmal etwas genauer unter die Lupe zu nehmen!"

"Sie meinen ...?"

"Ganz genau, Euer Majestät. Möglicherweise haben sich doch schon einige angesteckt!"

"Aber, Doktor, das klingt ja jetzt in keiner Weise beruhigend. Ich meine ..., und was ist mit mir selbst?"

"Darüber macht Euch doch bitte keine Gedanken. Bei Euch sehe ich schon allein an der zarten, rosigen Beschaffenheit Eurer Gesichtshaut, dass Ihr weder den Virrus in Euch tragt, noch dass Ihr jemals daran erkranken könntet. Hier schützt Euch Eure Abkunft vom allerhöchsten Adel!"

Dies beruhigte die Königin ein klein wenig, sie hatte sich aber schon selbst gedacht, dass eine königliche Abstammung einen immerhin vor solch einem schnöden Virrus schützen würde. Es war nicht auszudenken, wenn man auf einmal die gleichen Krankheiten wie Krethi und Plethi bekommen könnte. Wo käme man denn schließlich da hin? Das wäre ja beinahe so etwas wie demokratische Umtriebe zu nennen. Immerhin hatte eine Königin nicht einfach an einem Schnupfen sondern an einem Rachen oder Nasenkatarrh zu leiden. Außerdem war ihr bei dem Gedanken, sich eine Nadel unter die Haut stechen zu lassen, um an ihr blaues Blut zu gelangen, leicht schwindelig geworden. Gut, immerhin noch besser als aufschneiden, aber dennoch wohl eine recht viehische Angelegenheit.

"Kann ich Euch noch in irgendeiner Weise unterstützen bei Eurem Vorhaben, lieber Doktor?", fragte die Königin Wurstsalat, die nicht geizig erscheinen wollte, aber im Grunde davon ausging, dass es für einen solch jungen Medikus eine Ehre sein musste, den königlichen Hofstaat zu untersuchen. 

"Tatsächlich fehlt mir der richtige Ort, an dem ich auf vernünftige Weise arbeiten kann, Majestät. Das könnte nun wirklich zu einem Problem werden!", meinte jetzt  Karbinzel. "Seht Ihr, das Haus von Doktor Wackernagel ist dafür doch einfach ein wenig zu klein!"

"Na, es werden sich bestimmt hier im Schlosse Räumlichkeiten finden lassen, Doktor!"

"Ich dachte an etwas Größeres, Majestät, mir schwebt die Gründung einer richtiggehenden Institution moderner Naturwissenschaften vor, ein Institut, das selbstverständlich dann Euren Namen tragen sollte. Ich meine so etwas wie Königliches Institut Leopoldina! Was haltet Ihr davon, Majestät?"

 

 

 

 

 

Königin Wurstsalat

 

 

 

  Königin Wurstsalat

 

 

Ein Märchen, nacherzählt von den Brüdern Schlimm

 

 

 

Die Königin Wurstsalat hatte an diesem wunderschönen Frühlingstag wieder einmal furchtbar schlechte Laune. Sehr wahrscheinlich lag es gerade daran, dass es eben solch ein schöner Tag war. Die Sonne war schon am frühen Morgen herausgekommen und die Menschen taten es ihr im ganzen Lande gleich. Lange, lange Zeit hatte der Winter gewütet, beinahe länger noch als in den vergangenen Jahren und jedermann sehnte den Frühling herbei, um die letzten Reste Eis hinwegschmelzen und endlich die Bäume wieder ausschlagen zu lassen. Noch dazu litt sie wieder einmal wie so oft an entsetzlichen Kopfschmerzen, die durch das Kinderschrei von nebenan nicht gerade besser wurden. Ganz im Gegenteil durchfuhr die Königin jedesmal ein Stich in ihrem borstigen Schädel, wenn wieder einmal ein langgezogener spitzer Schrei aus dem Kindergarten ertönte, der rechts ihres hoheitlichen Balkons lag. Sie rückte sich die Krone noch einmal zurecht, die sie sogar des nachts im Bett zu tragen pflegte. Die Königin war der Ansicht, dass auch im Schlaf es unbedingt vonnöten war, selbst den Gestalten, denen  sie nur in ihren Träumen begegnete, als dasjenige zu erscheinen, das sie für ihre wertvollste Eigenschaft hielt. Nämlich die Königin über das ganze große Land zu sein, das jetzt in schönstem Sonnenschein friedlich zu ihren Füßen lag.

Es war viel zu friedlich, befand die Königin Wurstsalat, es wurde Zeit endlich wieder einmal die Armee hinauszusenden, so konnte es wirklich nicht weitergehen. Insbesondere Herzog Eustace ging ihr immer noch gehörig auf den Wecker, mit seinen ständigen Klagen über den Verlust des Rübenackers zehn Meilen von seiner Burg entfernt. Die Truppen der Königin hatten sich wacker geschlagen und den Soldaten des Herzogs eine empfindliche Schlappe zugefügt, um schließlich die fünf Tagewerk Ackerboden ihrem Königreich zuzuschlagen. Dies war im Frieden von Drostewitz ausgehandelt worden, ein Vertrag, benannt nach der winzigen Gemeinde von elf Einwohnern, die genau am Rande besagter Landfläche gelegen war. Im Grunde hatte dieser Krieg nur begonnen, weil sich die Königin Wurstsalat an einem ebensolchen Morgen wie heute belästigt gefühlt hatte vom Gestank der Runkelrüben, welche fünf Meilen westlich ihres Schlosses unverschämterweise gerade mit dem Blühen beschäftigt gewesen waren.

"Ekelhaft, das ist ekelhaft", hatte die Königin damals ausgerufen und wäre beinahe ohnmächtig geworden ob dieser fürchterlichen olfaktorischen Zumutung.

Nun ist dies Begebnis freilich heute längst Geschichte und Herzog Eustace hatte sich mit dem Verlust des Gebiets abfinden müssen. Auf dem Gelände nun etwas anzubauen, war den umliegenden Bauern von Drostewitz und des benachbarten Gunzenhofen im Übrigen strengstens verboten worden. Sogar wenn sich irgendeine Pflanze dort selbst aussäte, so musste dies Unkraut auf der Stelle vernichtet werden, sofern das Zeug in irgendeiner Weise zum Blühen neigte. Die Königin war eben nun einmal sehr sehr empfindlich in dieser Hinsicht.

Doch am heutigen Tage konnte sie keineswegs einen Geruch ausmachen, den sie für dieses unerträgliche Kopfweh verantwortlich machen konnte. Aber das Geschrei der Kleinen dort drunten schien ihrer Gesundheit in keiner Weise mehr zuzumuten zu sein. So konnte das auf keinen Fall weitergehen, beschloss die Königin Wurstsalat, schickte ihre Kammerzofe Veronika hinunter in den Verwaltungstrakt und ließ ihren Leibarzt  zu sich kommen.

Im Grunde war die Königin Wurstsalat jedoch selbst verantwortlich dafür, dass der Kindergarten direkt neben dem Westturm des Schlosses angesiedelt worden war. Sie beabsichtigte hiermit sich ihrem Volk als ganz besonders kinderliebe Person darzustellen, und zu Anfang hatte das ja auch ganz hervorragend funktioniert. An diesem Tag aber hätte sie gar nicht mehr zu sagen gewusst, wie sie die ganzen Sitzungen über einen solch langen Zeitraum hatte durchhalten können. Diese Kinder waren auch damals nicht gerade ruhig und gesittet gewesen; insbesondere das ewige Stillsitzen war den lieben Kleinen doch sehr schwergefallen. Immerhin dauerte es ja doch einige Tage bis so ein Ölgemälde von Meister Fungus fertiggestellt war. Aber was tat man nicht alles, um sich bei seinem Volk beliebt zu machen? Auf keinen Fall wollte die Königin in der Öffentlichkeit als eine eiskalt berechnende Herrscherin dargestellt werden. Ihre größte Befürchtung bestand darin, nicht einschätzen zu können, was die Geschichtsschreiber dereinst über die Periode ihrer Regierungszeit wohl verfassen würden. Und bis sie erst den richtigen Maler gefunden hatte, der der Aufgabe gewachsen war, die Königin so auf die Leinwand zu zaubern, dass es tatsächlich dem Bilde entsprach, dass sie selbst von sich hatte. Ein Bild im Übrigen, das mit der Wirklichkeit so ganz und garnichts zu tun hatte.

'Wo bleibt nur der Doktor', fragte sich gerade die Königin Wurstsalat, die sich jeden einzelnen Morgen im Jahr zuallererst von ihrem Leibarzt aufsuchen ließ. Dies war eine liebe Gewohnheit geworden, und oft wusste Doktor Wackernagel auch ihre Wehwehchen mit einigen Pillen, Tröpfchen oder einem sogenannten Schönheitstränklein schnell zu vertreiben. Da wurde auch schon die Pforte zu ihrem Nachtgemach von der Wache aufgerissen.

"Der Leibarzt Eurer Majestät, Majestät!", plärrte der alte Klemperer in seiner rotkarierten Livree in den riesigen Raum hinein, so dass es einige Male von den beinahe kahlen Wänden widerhallte. Der Haushofmeister war ein wenig taub, doch hatte sich dies als Vorteil herausgestellt, wenn der Mann auch bei geheimen Unterredungen zugegen sein musste. Daher hatte die Königin den alten Deppen immer noch nicht aufs Altenteil geschickt. Und herein stürzte der Doktor Wackernagel wieder einmal völlig aus der Puste wie beinahe jedes Mal, wenn er die fünf Stockwerke hinauf ins Schlafgemach der Königin Wurstsalat zu kommen hatte. 

Mit der Gesundheit des gelehrten Medikus stand es anscheinend selbst nicht gerade zum Allerbesten, und wenn man seine Künste danach beurteilen hätte wollen, wie es nun um ihn, den Doktor, gesundheitlich stand, so wäre kein vernünftiger Mensch jemals auf die Idee gekommen, gerade dieses schwindsüchtige Männchen zu bemühen.

"Nun wie befindet sich Dero Gnaden denn heute?", brachte der Medikus nun mühsam unter Seufzern endlich heraus. Unter dem Hemd konnte die Königin beinahe das unregelmäßig auf und abhüpfende Herz des Winzlings erahnen. "Ich hoffe, Ihr stellt mir die schöne Hoffnung in Aussicht, dass  Dero Gnaden wohlauf sind und die gestrige leichte Erhöhung der Temperatur verflogen sein möchte?" Es gab wohl am gesamten Hofe der Königin Wurstsalat keine einzige Person, die sich so verschwiemelt ausdrückte wie der Doktor Wackernagel, was vielleicht auch an dessen Alter liegen mochte, schätzte die Königin den Mann doch auf mindestens neunzig Jahre.

"Es geht mir hundserbärmlich, Wackernagel! Wiewohl hundserbärmlich wohl eher noch untertrieben zu nennen sein dürfte!", meinte die Königin daraufhin und straffte hierbei ihre Haltung wie um ihre eigenen Worte Lüge zu strafen. Man durfte, auch wenn es einem noch so danach war, niemals ganz und gar eine Schwäche vor einem seiner Untertanen zeigen. Dieser Ratschlag des alten Königs, ihres Herrn Papa war der Königin Wurstsalat in Fleisch und Blut übergegangen.

"Nun, wo kneift es denn heute, Majestät?"

"Von einem Kneifen kann keine Rede sein, geschweige denn von jedweder Art von Zwicken oder Taumel, Wackernagel! Es ist wieder einmal der Kopf!"

"Ach der Kopf, das königliche Haupt. Ich verstehe Majestät! Kein Schwindel also, nur Schmerz?", fragte Wackernagel, bemüht einen treuherzigen Blick aufzusetzen, was ihn wie eine Mischung aus einem Dackel und einer Schildkröte wirken ließ.

"Was heißt denn hier 'Nur'? Ich verbitte mir solch eine Wortwahl, Doktor! Glaubt Ihr vielleicht ich ließe euch tatsächlich Tag für Tag rufen, wenn nicht ernsthafte Malitessen mein Gemüt verdunkelten?" Die Königin war sehr stolz darauf, mit solcherart Wörtern ihre Rede zu spicken. Sie glaubte, auf diese Weise auch auf einen immerhin gebildeten Mann wie den Medikus Eindruck zu machen.

"Verzeiht, Majestät", rief nun der Alte im Greisendiskant aus. Eine Tonlage, die nun wieder wie ein böser Stich durch den Schädel der Königin fuhr, so dass sie ihre fleischige Stirn in erhebliche Falten warf, was nun wiederum das Krönchen auf ihrem Kopf ganz leicht ins Wanken brachte. "Es handelt sich wohl um das alte Leiden, nehme ich an?" Eine Frage, welche nun die Königin in einige Verwirrung stürzte. Sie hatte nicht die geringste Ahnung, was dieser greise Idiot jetzt mit einem alten Leiden wohl meinte? Tatsächlich waren ihr alle ihre Leiden doch schon mit in die Wiege gelegt worden, wie ihr von allerlei Ärzten versichert worden war. Sämtliche Kinderkrankheiten hatte die zur damaligen Zeit noch recht schwachbrüstige Prinzessin erleiden müssen, die nur vorstellbar gewesen waren zur damaligen Zeit. Wäre sie jedoch heute in dem zarten Alter von einstmals, dann wären wohl noch etliche Krankheiten dazugekommen. Die Königin hörte immer wieder, wieviele ihrer Hofdamen doch darüber klagten, dass die diversen Erkrankungen ihrer kleinen Lieblinge jedes Jahr mehr und mehr zu werden schienen. Während die Königin selbst doch wenigstens lediglich vom Wochentölpel, Ziegenpeter, den Röteln und den Schafblattern heimgesucht worden war, allesamt Leiden welche tiefe Narben im Antlitz der Königin hinterlassen hatten, so existierten heute anscheinend noch weitaus mehr heimtückische Seuchen, die den adligen Nachwuchs von Zeit zu Zeit anfielen. Ob es sich bei den Bauernbuben und Mädels ebenso verhielt, hätte die Königin Wurstsalat nicht zu sagen gewusst. Heute sprachen die Herren Doktoren zusätzlich vom Schartigen Lumpikus, einem schuppigen Flechtenbewuchs, verbunden mit beidseitigem Ausfall des Hörsinnes, dann die Marilleninfektion, die sich auf die Tränendrüsen der lieben Kleinen auswirkte, was ihre Augen zu erstaunlich riesigen Bällen anschwellen ließ: und dann noch die Appendizitis, bei deren Auftreten die Doctores nicht darum herumkamen, wie sie behaupteten, das Kind tatsächlich aufzuschneiden, um aus seinen Eingeweiden ein winziges Stückchen vom Gedärm herauszuschnippeln, eine Methode, die in beinahe der Hälfte der Fälle zum Tode der kleinen Patienten führte. All dies hatte es in früheren Zeiten nicht gegeben, dachte zumindest die Königin, die das Ganze für groteske Übertreibungen der Medizin hielt, eine Wissenschaft, die sich in dieser Zeit immer selbst wichtiger und wichtiger machte, so dass schon sogenannte Chirurgen der Gottlosigkeit bezichtigt worden waren. Manch einer hatte gar den Tod auf dem Scheiterhaufen gefunden, eine nette Tradition mit der man allerdings vor wenigen Jahren beinahe zur Gänze gebrochen hatte. Sehr zum Missvergnügen der Königin übrigens, die schon als junges Mädchen recht gern einem solchen Schauspiel beigewohnt hatte. Es war einer der angenehmsten Vorteile, die man vor dem gemeinen Volk hatte. Man hatte von der eigens aufgestellten Einrüstung herab, die allerbeste Aussicht auf die zusammenschnurrenden brennenden Leiber gehabt. Und das lustige Geräusch, das hierbei entstand, war ihr damals wie die allerschönste Musik erschienen.

"Altes Leiden, es handelt sich keinesfalls um ein altes Leiden, Doktor!", protestierte nun Königin Wurstsalat energisch. "Ich denke, es muss sich durchaus um etwas Ernsteres handeln!"

"Nun, vielleicht handelt es sich tatsächlich um einen ganz neuen Virrus", schlug nun der greise Wackernagel begütigend vor!"

"Was soll das sein, ein Virrus?", fragte die Königin gleich zurück. Das Wort klang in ihren Ohren seltsam verlockend, sie hätte in keiner Weise sagen können, warum eigentlich?

"Es befindet sich zur Zeit ein junger Kollege in der Stadt, dessen Forschung auf diesem Gebiet meiner Meinung nach recht interessant sein könnte!"

"Was redet er in einem fort in Rätseln, Wackernagel? Was nun versteht Ihr nun unter dieser Begrifflichkeit?", fragte Königin Wurstsalat ungeduldig. Wenn sie etwas nicht ausstehen konnte, dann war es, wenn man ständig um den heißen Brei herumredete.

"Nun, es handelt sich bei einem Virrus um etwas winzig kleines, so klein, dass es mit dem bloßen Auge in keiner Weise zu erkennen ist. Man benötigt hierzu ein wirklich starkes Mikroskop ..."

"Was soll nun das wieder sein? Aber sprich weiter, Doktor!"

"Nun der junge Magister Karbinzel scheint diese winzigen Teilchen für so einiges verantwortlich zu machen, was gerade im Herbst und Winter in der gesamten Bevölkerung so um sich greift, Majestät. Ihr wisst doch, was ich meine, dieses unselige Geschniefe und Gehuste allerorten, dass ja auch schon zu hohem Fieber führen, und gerade bei Kindern oder alten Leuten rasch gar zum Tode führen kann!", erklärte Wackernagel, bemüht nicht Fachausdrücke zu benutzen, mit welchen, wie er sehr wohl wusste, Ihre Majestät nichts anzufangen würde wissen.

"Dieses sogenannte Virrus überträgt sich quasi von Mensch zu Mensch, man sollte daher möglichst die Erkrankten abseits der anderen halten, ansonsten wäre bald niemand mehr fähig, die Felder zu bestellen oder sein Handwerk auszuüben. Eine schreckliche Vorstellung, alles würde brachliegen und möglicherweise könnte eine Hungersnot das gesamte Land erfassen ..."

"Aber das ist ja wirklich fürchterlich, Wackernagel!", meinte Königin Wurstsalat ernsthaft erschrocken über dieserart düstere Aussichten.

"Dann macht Euch auf, und dieses äh ..., wie nanntet Ihr es noch, Virrus dingfest, Doktor! Immerhin ist Eure Zunft verantwortlich für das Wohl der Königin, wie auch der gemeinen Bevölkerung!"

In diesem Moment verspürte die Königin auch schon ein Kratzen im Hals, das sie mit einem Hüsteln zu unterdrücken suchte. Gleichzeitig hatte sie das Gefühl, ihre nicht gerade schlanke Nase sei im Begriff noch einmal um das Doppelte anzuschwellen.

"Ich würde mich sehr gerne einmal mit diesem jungen Mann unterhalten! Wie sagtet Ihr noch war der Name, Karfunzel?"

"Karbinzel, Majestät! Karbinzel!"

 

 

Ein äußerst seltsames Märchen, das ich da in einer alten Schatulle gefunden habe. Wenn es mir gelingt, auch die übrigen Blätter, die sich in einem geradezu miserablen Zustand befinden, noch zu entziffern, werde ich diese freilich unverzüglich der breiten Öffentlichkeit präsentieren.

Die Räuber

mehr lesen

Ein kleiner, völlig aus dem Zusammenhang gerissener Ausschnitt aus dem formidablen Roman 'Die unfreiwilligen Reisen des Albert Harrnischfeger'

Obwohl noch gar nicht erschienen, verleiht die Deutsche Beobachtungsstelle für literarische Qualitätskontrolle dem Buch schon heute das Prädikat GABW (Ganz Arg Besonders Wertvoll)

 

 

Zuerst war er sich nicht sicher, ob er wirklich vor dem richtigen Mietshaus stand. Niemand mit dem Namen Stürmer war auf den Klingelschildern zu entdecken. Möglicherweise wohnte Ludwig in dieser Wirklichkeit nicht hier, oder aber Ludwig existierte in dieser Welt nicht, was noch viel schlimmer wäre! Ohne einen Vertrauten, dem er die ganze Geschichte würde erzählen können, fühlte sich Albert nun gänzlich aufgeschmissen. Möglicherweise aber wohnte Ludwig doch dort, eines der Klingelschilder war unbeschriftet. Albert klingelte und als sich über die Gegensprechanlage niemand meldete, läutete er ganz unten in einer der beiden Parterrewohnungen. Sogleich ertönte ein Brummen, er drückte gegen die Tür und ging hinein. Die Frau, die ihm jetzt in einem rosafarbenen Bademantel entgegenkam, konnte ihm jedoch keineswegs weiterhelfen. Ein Herr vom Aussehen Ludwigs sollte aber hier keinesfalls wohnen, meinte sie schließlich. So ein stattlicher Mann wäre ihr unter Garantie aufgefallen. Bei diesen Worten hatte sie Albert mit verklebten Wimpern angeblinzelt, was dieser aber kaum zur Kenntnis nahm, und sich daraufhin gleich wieder höflich dankend verabschiedete.

Verdammt, er bräuchte jetzt endlich einmal einen Computer! Dann fiel ihm ein, heute Morgen an einer alten magentafarbenen Telefonzelle vorbeigekommen zu sein, wahrscheinlich eine der letzten ihrer Art, nahm Albert an. Am Nordeingang zum Park war das gewesen, fiel ihm schließlich noch der Standort ein. Wenn er Glück hatte, würde er dort noch ein zerfleddertes Telefonbuch finden! Wenn er sehr viel Glück hatte! Und tatsächlich hatte er genau nun dieses Glück.

Stürmer, Ludwig, Musikproduzent‘, stand dort und auch die Adresse war abgedruckt, was ja nicht unbedingt mehr üblich ist. ‚Anatol-Stiebnitz-Weg 15.‘

Musikproduzent, wow‘, dachte Albert. Wenn es sich denn bei dem Mann um seinen Ludwig Stürmer handelte? Bei dem Namen konnte es durchaus sein, dass es mehrere davon gäbe, ganz im Gegenteil zu seinem eigenen, der doch weitaus ungewöhnlicher war. Er würde es jedenfalls versuchen müssen und schätzte die Chance, einen Treffer gelandet zu haben als nicht ganz schlecht ein. Immerhin hatte auch der Ludwig, den er kannte, in seiner Jugend leidenschaftlich musiziert, wie Albert sehr wohl wusste, da er sich manche der Anekdoten aus dieser Zeit in Ludwigs Leben mehr als einmal hatte anhören müssen.

Wieder verfluchte Albert diesen unseligen Ecu, mit dem hier bezahlt wurde, allein die dämliche Bezeichnung für die Währung hatte sich anscheinend geändert und jetzt traute er sich nicht mit dem Bus in denjenigen Stadtteil zu fahren, in welchen ihn die ominöse Adresse führte. Er würde also wohl laufen müssen, und noch dazu bei dieser Hitze! Er schätzte, das Thermometer hatte längst schon wieder die 30 Grad Marke überschritten, da würde dies ein anstrengender Spaziergang werden.

 

Wirklich wurde das Laufen von Minute zu Minute strapaziöser, in der Zwischenzeit ging es auf Mittag zu und die Sonne brannte heiß auf den Eschenfelder Asphalt hinab. Auch die Gebäude vermochten keinen schützenden Schatten mehr zu spenden. Dann war Albert endlich an der Allee angekommen, und zwei endlos scheinende Reihen von Pappeln säumten nun einen Weg, der lediglich für Fußgänger und Fahrradfahrer zugelassen war. Immerhin konnte man hier wieder etwas freier durchatmen. Hätte er den Fußweg an der Straße entlang genommen, wäre er schneller am Ziel gewesen, doch nahm Albert nur allzu gerne diesen Umweg in Kauf. Er glaubte, wenn er den kürzeren Weg gewählt hätte, wäre er irgendwann mit einem Sonnenstich in die Klinik eingeliefert worden.

Die Allee führte, verfolgte man sie weiter, in einen englischen Landschaftspark weit vor den alten Toren der Stadt gelegen. Aber ganz so weit würde er nicht laufen müssen, wusste Albert. Obwohl er nicht genau sagen hätte können, wo der Anatol-Stiebnitz-Weg lag, so hatte er doch eine ungefähre Ahnung und schlug nach Überquerung der Trasse einer stillgelegten Bahnstrecke den Weg nach links ein, der ihn in besagten Vorort führen würde. Kaum hatte er die Allee verlassen, brannte auch schon wieder die Sonne erbarmungslos auf seinen Kopf nieder. Er wünschte sich eine Mütze, vielleicht würde ihm Ludwig eine leihen können? Albert hatte den Eindruck, dass es von Tag zu Tag heißer wurde, oder vielleicht eher von Welt zu Welt, ein Umstand, der ihn einigermaßen verwunderte. Immerhin existierten zwischen den Wirklichkeiten durchaus Unterschiede, auch wenn diese sich bisher noch nicht als vollkommen verstörend und verwirrend herausgestellt hatten, wie er, bevor er das letzte Mal in den verwunschenen Schrank eingetreten war, begonnen hatte zu befürchten. Warum also waren die Wetterbedingungen immer die Gleichen? Könnte es nicht einmal wenigstens ein klein wenig regnen?

Nachdem er an einer alten Kleiderfabrik vorbeigekommen war, wo höchstwahrscheinlich nur noch verschiedene Modelle erstellt wurden und die Endproduktion in Indien oder China stattfinden würde, entdeckte Albert jetzt das Straßenschild, nach dem er die ganze Zeit über Ausschau gehalten hatte. Vor ihm lag der riesige Parkplatz eines Gebrauchtwagenhändlers, auf welchem sich ein älteres Ehepaar gerade etwas aufschwatzen ließ. Warum sahen Gebrauchtwagenhändler, trotz ihrer meist sehr anständigen Kleidung dennoch immer aus wie Schiffsschaukelbremser, wunderte sich Albert wieder einmal? Dann eine längst geschlossene Fabrikationshalle eines wohl pleitegegangenen Unternehmens, dessen Name er durchaus einzuordnen wusste. Sieh an, dachte er noch, auch hier haben die geschlossen. Dann endlich die Hausnummer 15!

Ein zweistöckiges Haus mit spitzem Giebel und Schieferdach; es musste sich um das ehemalige Verwaltungsgebäude der Fabrik handeln, die schon im Dritten Reich dort angesiedelt gewesen war, dachte Albert. Er war hier selten nur vorbeigekommen, obwohl er doch beinahe sein ganzes Leben in Eschenfeld zugebracht hatte. Er glaubte, einmal irgendwo gelesen zu haben, dass dort, wo vor fünfzehn Jahren noch Autositze hergestellt wurden, noch viel früher Teile zur Rüstung produziert worden waren. Er hatte noch den Terminus ‚Kriegswichtiger Betrieb‘ im Hinterkopf behalten. Das Gebäude musste wohl schon weitaus bessere Zeiten gesehen haben. Es wirkte nicht so, als hätte es in den letzten Jahrzehnten irgendetwas von Wichtigkeit beherbergt. Es sah viel eher so aus, als wäre es einfach von der Zeit vergessen worden und verfiel langsam aber sicher ganz einfach hier am Rande der Stadt.

Immerhin waren noch keine Löcher im Dach zu erkennen, fiel Albert auf. Eine fünfstufige, breite Steintreppe führte hinauf zu einer doppelflügeligen Tür. Dort wo einst Glasscheiben gewesen sein mussten, waren nun Spanplatten aufgeschraubt worden. Das Haus wirkte jedenfalls nicht so, als würde es bewohnt sein; kein Mensch, der noch ein Fünkchen Verstand besaß, würde in einem derartig heruntergekommenen Bauwerk sich niederlassen wollen. Doch prangten oberhalb des Eingangs in fröhlichen, auf ein längliches Holzschild gemalten Lettern die Worte ‚Shabby Road Studios‘. Albert konnte sich allenfalls vorstellen, dass zwei, drei Bands bestehend aus jungen Rockern hier möglicherweise ihre Proberäume haben könnten. Für ein Musikstudio, wie er sich dies vorstellte, schien ihm das ganze Ambiente jedenfalls allzu heruntergekommen zu sein.

Zu seiner Überraschung jedoch fand Albert schließlich neben der Tür tatsächlich einen einzelnen runden Klingelknopf, wie er wohl in den Fünfzigern modern gewesen sein musste. Wahrscheinlich aus dem gleichen Stoff gegossen, aus welchem diese uralten, schwarzen Telefone waren.

Zögerlich läutete Albert. Einmal, zweimal, dreimal! Nichts tat sich! Was hatte er eigentlich erwartet, dass eines der Fenster aufginge, von denen die meisten, die sich in seiner Sichtweite befanden, ebenso mit Spanplatten vernagelt waren wie der obere Teil der Eingangstür? Es musste sich um einen Irrtum handeln! Zumindest würde Ludwig hier nie und nimmer wohnen, schon alleine weil man hier allerhöchstens hausen würde können, überlegte Albert. Zwar war sein Freund nun keineswegs der Ordentlichste, seine Wohnung war in einem ähnlich schlampigen Zustand wie das Häuschen Alberts auch. Doch konnte der sich jetzt nicht vorstellen, dass Ludwig in diesem Horrorhaus leben könnte. Dann kam ein quietschendes Geräusch aus dem Inneren. Eine Tür schlug zu! Ein Schlüssel drehte sich knirschend im Schloss. Die Tür öffnete sich langsam nach innen, der untere Rand des Türblatts kratzte über den Betonboden dahinter.

Ein großer, dicker Mensch stand vor Albert, angetan mit Jeans, T-Shirt und einer bunten gehäkelten Weste. Auf dem Kopf hatte er ein ebenso buntes Käppi unter welchem ein langer, blonder Pferdeschwanz hervorschaute, der ihm weit über die Schultern hinabfiel und einen seltsamen Kontrast zu dem weißen Walroßchnäuzer bildete.

„… Ludwig?“, stammelte Albert.

Ach, du bist dieser Vincent, der den AC 30 ansehen wollte, stimmt‘s? Das hätte ich jetzt echt fast schon wieder vergessen. Komm rein, bring Glück herein!“, sagte der große Kerl jetzt rätselhafterweise. Albert war sich keinesfalls sicher, dass es sich hier um Ludwig handelte. „Du kannst mich übrigens Lou nennen, ist mir irgendwie lieber!“

Albert lief leicht benommen dem Mann hinterher, der die Tür anscheinend einfach offen stehen lassen wollte. Es roch aus dem Inneren des Hauses genauso nach Schimmel und Sporen, wie Albert sich vorgestellt hatte.

Ich hab das Teil oben stehen“, meinte nun nämlicher Lou und lief auch schon die Treppe hinauf, die linker Hand nach oben führte. Er war für seine Statur erstaunlich flink auf den Beinen, obwohl er wirklich unförmig gebaut war, viel dicker noch als Ludwig, konnte Albert jetzt feststellen.

Neue Originalröhren“, erklärte der Dicke nun dem anderen, der sich anstrengen musste mit dem Mann Schritt zu halten, ohne sich nach ihm umzudrehen. „Naja, was heißt neu, zugegeben, ich hatte die mal vor fünf Jahren bestellt, bin aber erst vor ein paar Monaten dazu gekommen, sie einzubauen und einzumessen. Rotzt aber wieder wie in den Sechzigern, das kann ich dir versprechen! Und keine Angst, ich habe immerhin mal Physik studiert, ob du‘s glaubst oder nicht!“

Glaub ich sofort!“, brummelte Albert, als sie im ersten Stock vor einer Tür standen, die nun wirkte wie eine gewöhnliche Wohnungstür in einem Altbau; dunkles lackiertes Holz, dicke, undurchsichtige raue Glasscheiben, im Türstock die Andeutung von Säulen eingefräst.

Komm rein, vielleicht einen Kräutertee?“, meinte der Dicke jetzt und drehte sich endlich nach seinem Gast um.

Gerne“, murmelte Albert.

Ginseng, Brennessel, Mate, Rotbusch, Anis, Pfefferminz?“

Äh ja!“, meinte Albert unentschlossen.

Okay, dann ein Bierchen, oder?“ Der Mann war in einen engen schlauchförmigen Flur getreten, von welchem auf beiden Seiten etliche Türen abgingen; die Raumhöhe war enorm, man hätte beinahe einen Basketballkorb in der richtigen Höhe aufhängen können.

Klingt irgendwie besser, ja!“, sagte Albert und blieb an der Tür zu einer Küche stehen, die beinahe ebenso schmal war wie der Flur. Auf einer Seite die übliche Küchenzeile mit Geräten, auf der anderen ein kleines Tischchen mit zwei unansehnlichen schwarzen Holzstühlen. Der Dicke öffnete mit Schwung den großen Kühlschrank, der recht laut seine 50 Hertz vor sich hin brummte, und hatte gleich zwei grüne Flaschen einer norddeutschen Biermarke in Händen. Es ploppte zweimalig, und schon war eine der Pullen in geöffnetem Zustand in Alberts Hand gelandet, wo sie alsbald den Angriff ihrer Kollegin mit einem Pling über sich ergehen lassen musste.

Prost“, meinte der große Mann, von dem Albert immer noch nicht sagen konnte, ob es sich denn tatsächlich um den hiesigen Ludwig handelte oder eben nicht. Dann tappte der, die Flasche in der Hand, zurück auf den Flur und winkte Albert, ihm zu folgen. Auf der anderen Seite stand wieder ein hoher, graulackierter Durchgang offen, dahinter ein Arbeitstisch, auf dem allerlei Werkzeug herumlag. Albert konnte einen Lötkolben erkennen, um welchen unordentlich allerlei elektronische Bauteile herumlagen. Auf dem Boden vollkommen zerlumpte Läufer, die keinerlei Ursprungsfarbe mehr erkennen ließen.

Da steht er der alte Knabe!“, meinte jetzt Lou und deutete auf einen Gitarrenverstärker in der Ecke, auf dessen Vorderseite der Markenname Vox zu lesen war. Ein Schalter wurde gedrückt, ein rotes Lämpchen leuchtete auf und nach einer Weile begann es laut zu brummen, woraufhin der Dicke nun eine Fender E-Gitarre in die Hand nahm und mit einem laut knacksenden Geräusch ein Klinkenkabel einsteckte.

Hier, versuch mal dein Glück, Vincent!“, forderte Lou nun seinen Gast auf, der aber keine Anstalten machte, sich das Instrument umzuhängen.

Ich heiße Albert“, sagte Albert, als ob dies irgendetwas erklären würde.

Nicht Vincent?“, fragte Lou stirnrunzelnd, dann erhellte sich jedoch seine Miene auf der Stelle wieder. „Ach so, du kommst wegen dem Probenraum, sag das doch gleich! Müsste allerdings zuallererst mal entmüllt werden, bin noch nicht dazugekommen! Diese Chaoten von Female Antagonist, oder wie immer die Punker sich nannten, haben das Leergut des ganzen letzten Jahres hinterlassen, kommt mir vor!“ Ein schrilles Klingeln ertönte von irgendwoher. „Ah, das muss aber jetzt Vincent sein. Das ist aber auch ein Betrieb heute! Setz dich kurz mal rüber ins Wohnzimmer, bin gleich zurück!“ Lou stellte die Stratocaster in einen Gitarrenständer und kurz darauf konnte Albert ihn wieder die Treppe hinunterstapfen hören.

Alleingelassen beschloss Albert, sich einfach mal in der Wohnung des kauzigen Dicken umzusehen. Möglicherweise könnte er irgendetwas finden, das auf seine Identität hinweisen würde. Allerdings sah er Ludwig verblüffend ähnlich, lediglich schien dieser Lou noch erheblich dicker zu sein. Auch die Stimme klang wie diejenige seines Freundes, dachte Albert, aber irgendwie etwas heiserer. Und dann noch dieser David Crosby Schnäuzer! Er tappte hinüber in das Zimmer, das Lou als Wohnzimmer ihm angezeigt hatte, und kam in einen Raum dreimal so groß wie die beiden anderen Zimmerchen am Anfang des Flurs. Eine riesige bequeme Couch stand rechts an der Wand und zwei nicht ganz dazu passende Sessel mit ähnlichen Stoffbezügen auf der anderen Seite eines niedrigen Holztischchens, auf dem sich allerlei Utensilien zum Rauchen angesammelt hatten. Zwei winzige Pfeifchen, Zigarettenpapier, eine Packung schwarzer Krauser und ein Päckchen Camel Filter lagen darauf herum, neben einer Fernsehzeitung, was Albert nun doch überraschte, hielt er ein solches Presseerzeugnis in Zeiten des Internets für eine Erscheinung aus längst vergangenen Tagen. Es stand hier allerdings auch nirgendwo ein Computerbildschirm oder ein Laptop herum, wie er jetzt feststellen musste. Schade, dachte er, mit Hilfe des Internets würde er wohl am schnellsten dahinterkommen, inwiefern sich diese neue Welt von der seinigen unterschied. Immerhin thronte auf einer Kommode in der linken Ecke ein recht großes Röhrenfernsehgerät, auch die Nachrichten waren immerhin gut dazu, Informationen zu sammeln.

Zahlreiche Bilder, Fotografien sowie Gemaltes hing überall an den Wänden unsymmetrisch verteilt, und als Albert nähertrat und sich einige der Bilder betrachten wollte, hörte er die Füße zweier Menschen die alte Treppe heraufkommen, gleich darauf jaulte in ohrenzerfetzender Lautstärke der Verstärker los.

Aha, Vincent‘, dachte Albert bei sich und fuhr mit der Betrachtung der gerahmten Fotografien fort. Schon das erste Foto bestätigte jetzt die Identität des Mannes, der sich lieber Lou an Stelle von Ludwig nennen lassen wollte. Ein Bild von Brummkreisel Indifferenz im Proberaum, dann eines vor einem bunt bemalten Bandbus, wobei man sich unwillkürlich dabei ertappte zu fragen, wie diese ganzen Musikanten samt Equipment in dem Bully bloß Platz hatten finden können. Auch trug der Wagen in verschlungenen, psychedelischen Buchstaben den Namen der Band auf der Seite. Genau das gleiche Foto, nun vielleicht nicht ganz genau das gleiche, aber immerhin ein ganz ähnliches, hing auch bei Ludwig, seinem Ludwig, im Wohnzimmer über der Couch, allerdings vergrößert und digital bearbeitet, so dass die Farben wesentlich mehr leuchteten, als auf dieser verblichenen Aufnahme.

Der reine Wahnsinn‘, dachte Albert. Das Leben des hiesigen Ludwig muss in ganz anderen Bahnen verlaufen sein als das seines Freundes. „Und kiffen tut er auch immer noch, ts, ts!“, murmelte er mit leichter Missbilligung vor sich hin, sich die Utensilien auf dem Tisch betrachtend. Er hatte es in jungen Jahren einmal versucht, dabei war ihm jedoch so schlecht geworden, dass er für alle Zeit die Finger davon gelassen hatte. Ludwig meinte dazu, dass er selbst, wenn er heute einmal an einem Joint zöge, er lediglich schläfrig werden würde und er es daher aufgegeben hatte, war aber durchaus der Meinung, wenn er an Schlaflosigkeit litte, würde er sich nicht scheuen, sich etwas Gras zu besorgen. Dieser neuerliche Ludwig hatte da anscheinend ganz andere Gewohnheiten.

Albert lief von Bild zu Bild bis er vor dem nicht gerade sauberen Fenster, das auf einen seitlich vom Haus sich befindenden Hof hinausging, stehenblieb und hinausschaute. Dort unten stand ein alter VW Passat, dessen Farbe sich nicht zwischen einem Gelb und einem schmutzigen Hellbraun hatte entscheiden können, mit etlichen Roststellen, wie man sogar von hier oben deutlich erkennen konnte. Anscheinend fuhren die meisten Ludwigs einen Volkswagen, dachte Albert.

Jetzt verstummte das Gejaule der Gitarre, nur um gleich darauf von einem Heavymetal Riff abgelöst zu werden, dann hörte Albert die Stimmen der beiden auf dem Flur.

Ich überleg's mir noch mal, Mann, aber danke!“, hörte er jetzt einen noch jugendlich klingenden Menschen sagen. „Vielleicht krieg ich doch den Boogie aus der Bucht!“

Ja, aber bring mir die Kiste nicht gleich zum Reparieren vorbei!“, war jetzt Lou zu vernehmen, er klang keineswegs so verärgert, wie man hätte erwarten können. „Ich hab auch noch einen 71er Marschall in Arbeit, da fliegt dir der Kopp nach hinten, kansste mir glauben!“

Dann ruf ich noch mal an! Tschüss!“

Bis denne!“

Deutlich waren die Stimmen der beiden zu hören gewesen, die sich verabschiedeten. Jetzt knarzte die Eingangstür über den Boden und knallte zu. Eine Minute später stand auch schon wieder Lou vor Albert, der sich nun sicher war, dass es sich bei diesem tatsächlich um eine andere Version seines Freundes Ludwig handelte. Geschäftig trat der Dicke ins Zimmer, in der Hand immer noch die Bierflasche, die er jetzt leer auf dem Tisch abstellte, dann ließ er sich mit seinem ganzen Gewicht aufs Sofa plumpsen.

Also, der Raum unten, wie gesagt, irgendjemand müsste dort erst einmal aufräumen! Aber ich könnte euch eine Monatsmiete erlassen, wenn ihr das selbst hinkriegen könnt! Ansonsten wären es sechzig Ecu monatlich! Und solange ihr nicht die Stromrechnung in astronomische Höhen treibt, können wir's auch dabei belassen. Wie heißt du nochmal, und was spielt ihr denn für ne Mucke?“

Ich bin Albert“, sagte daraufhin Albert und legte in diese Worte eine gewisse Dringlichkeit, so als ob er erwartete, dass dieser neue Ludwig ihn am Ende doch erkannte. „Und ich spiele eigentlich überhaupt kein Instrument!“

Ah, haha!“, lachte der Dicke und ließ seinen Blick über Albert gleiten, der immer noch verzagt vor dem Fenster stand. „Du siehst mir gar nicht aus wie der Sänger, eine Frontsau habe ich mir irgendwie anders vorgestellt. Aber gut, ist ja fast mal was Neues, so ein Kerl ganz ohne Tattoos, weder auf Armen noch im Gesicht!“

Mit dieser Aussage wusste Albert nun wieder einmal überhaupt nichts anzufangen. Er war allzu sehr damit beschäftigt, wie er diesem Ludwig die ganze Geschichte verklickern sollte. Gleichzeitig fragte er sich, ob überhaupt etwas mit dieser Version Ludwigs anzufangen sein würde, der Kerl sah ihm nicht gerade so aus, als könne er die Sache wirklich verstehen!

Noch ein Bierchen?“, fragte Lou jetzt und schon war er flinken Schrittes hinausgeeilt, um sogleich wieder mit Nachschub in der Tür zu stehen, ohne die leeren Flaschen abgeräumt zu haben. „Setz dich erst nochmal, es ist ja noch früh am Tag!“, meinte er schließlich, ließ sich wieder fallen und hatte schon die Flasche an seinen wulstigen Lippen.

Wieder zweifelte Albert an dem Mann, der nun auch noch damit begann, sich kunstgerecht einen Joint zu drehen. Doch besann er sich schließlich, setzte sich dem Dicken gegenüber und fing an zu erzählen.

Also Ludwig, das klingt jetzt vielleicht zuerst mal ein bisschen seltsam, aber in einem anderen Leben sind wir beide recht gute Freunde …!“ Albert sah hinüber zu dem konzentriert mit seinem Origami beschäftigten Mann, immer noch voller Zweifel, dann redete er einfach weiter und weiter und weiter.

 

 

 

Lou

 

Das war vielleicht ein Morgen. Kaum war ich einigermaßen wach, klingelte es schon, dabei war ich mir im ersten Moment in keiner Weise bewusst, dass sich jemand angekündigt hatte. Da fiel mir aber gleich dieser Vincent ein, der sich für den AC 30 interessierte, und als ich auf den Wecker sah, nahm ich an, das müsse wohl der Typ sein, der anscheinend ein wenig überpünktlich war. Irgendwann stellte sich dann heraus, dass der Kerl, der sich später mit dem Namen Albert vorstellte, weder an dem Amp noch an dem Proberaum im Keller Interesse hatte. Und die Geschichte, die mir dieser Albert bald darauf auftischte, übertraf alles an Verrücktem und Abgefahrenem, was ich in meinem ganzen langen Leben bisher mir hatte anhören müssen.

Es fing damit an, dass er mir mitteilte, dass wir beide, also er selbst und meine Wenigkeit, in einer anderen Welt die besten Freunde wären. Das heißt, in dieser anderen Wirklichkeit, wie er sich ausdrückte, wäre ich allerdings keineswegs die Person, die ich bin, sondern hätte sozusagen ein völlig anderes Leben gelebt. Dass ich mir, als ich mir das anhörte, unbedingt einen zweiten Joint bauen musste, versteht sich beinahe von selbst. Hätte ich das nicht getan, ich glaube nicht, ich hätte dem wirren Gestammel dieses Albert länger als zwei Minuten folgen können.

Er und ich sollen in besagter anderen Welt Kollegen sein und wir würden beide an der Geschwister-Scholl-Gesamtschule unterrichten. Er Englisch und Deutsch und ich Physik und Mathematik. Das war nun wirklich derart abstrus, dass ich höchstwahrscheinlich ein ziemlich dummes Gesicht gemacht haben musste. Jedoch hielt mich irgendetwas davon ab, den Irren einfach hinauszuwerfen. Es lag ein solcher Ernst und eine Dringlichkeit in seiner Stimme, dass ich schließlich nicht anders konnte, als ihn bis zum Schluss anzuhören. Erst als er schon fast zum Ende seiner Story gekommen war, stellte ich noch einige Fragen. Obwohl ich mir immer noch keineswegs vorstellen konnte, dass der Typ keinen Dachschaden hatte, setzte ich mich dennoch mit dem Erzählten auseinander. Irgendwie begann die Sache mich zu amüsieren, und außerdem soll man mit Wahnsinnigen ja besonders vorsichtig umgehen!

Ich wollte schließlich doch etwas mehr über mein eigenes anderes Ich erfahren, wie es sich dieser Albert anscheinend so bildhaft ausgemalt hatte, und seltsamerweise, so schien es mir dann allmählich, hatte vieles von dem, was er wie nebenbei erwähnte, Hand und Fuß. Tatsächlich hatte ich in jungen Jahren begonnen Physik und auch Mathe zu studieren an der alten Goethe-Uni, und die letzten fünf Jahre mich für das Lehramtsstudium eingeschrieben, aber im Grunde hatte ich dies alles letztlich nur wegen der Krankenkassenbeiträge getan. Kurz danach begann es derart gut mit der Band zu laufen, dass ich gar nicht mehr auf dem Campus aufgetaucht bin. Ich glaube, kaum einer der Dozenten, deren Kurse ich belegt hatte, kannte überhaupt nur meinen Namen. Im Prinzip hatte ich für ein ernsthaftes Studium auch gar keine Zeit. Seit das erste Album erschienen war und sich langsam bei Kritikern der Begriff Krautrock zu etablieren begann, waren wir eigentlich ständig auf Achse. Und das obwohl wir damals nur davon träumten, wirklich von der Musik alleine leben zu können! Bei den Auftritten in winzigen, neugegründeten Clubs oder Jugendzentren war wirklich nicht viel zu holen, auch deswegen kam Heribert damals auf die Idee, eine Landkommune zu gründen. Im Übrigen waren wir die Ersten im Land, die das Projekt einer solche Musikerkommune damals in Angriff genommen hatten, viele haben es hinterher kopiert, glaube ich heute immer noch. Das Seltsamste daran war eigentlich, dass ein Haufen junger Leute, von denen die allermeisten aus irgendwelchen Kuhkäffern gerade erst in die große Stadt gezogen waren, um dem kleinbürgerlichen Mief der Provinz zu entkommen, dann ein paar Jahre später genau dorthin wieder zurückkehrten, und das noch dazu freiwillig!

 

 

 

 

 

 

 

 

elbojames.jimdofree.com Blog Feed

Der Königin Wurstsalat Dritter Theil (Fr, 18 Mär 2022)
>> mehr lesen

Der Königin Wurstsalat zweiter Teil (Fri, 01 May 2020)
>> mehr lesen

Neuigkeiten des Schreiberlings

Das Gezeitensieb... es geht langsam in die Endphase

Über das Buch

 

 

Das Gezeitensieb steht in der großen Tradition des mäßig bekannten literarischen Genres ‘Magische Phantasmagorien satirischer Machart‘, welches völlig zu Unrecht in Vergessenheit geraten ist.

 

Es wimmelt in dieser epochalen Trilogie geradezu von Gestalten, die kein halbwegs gesunder Menschenverstand jemals würde ersinnen können; möchte man zumindest meinen.

 

Sternmunkel, Wolpertinger, die seltsamen Hurveniks, und last but not least, ein waschechter wasirischer Braunbär in seltsamer Verkleidung. Sprechende Vögel, ein wandlungsfähiger Vampyr; höllische Dämonengestalten, an denen pausenlos das schlechte Gewissen nagt und sogar des Teufels Großmutter höchstpersönlich, finden Erwähnung in diesem unvergesslichen Roman. Allesamt Gestalten, die man nicht mehr so schnell loswerden wird können.“

 

 

Dies berichtete Gunnar Lavendelzwirn im Weentbehler Anzeiger, verantwortlicher Chefredakteur für kulturelle Fangfragen.

2 Kommentare